Auf der Platte in Berlin: Wie hart ist das Leben als Obdachloser wirklich? Joey Kelly wagt den Selbstversuch

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Deutschland zu Fuß durchqueren, Flaschen sammeln für den Lebensunterhalt, einsam auf einer Insel leben – Joey Kelly hat sich mit stern TV schon auf manche Extremerfahrung eingelassen. Dass das Leben als Obdachloser eine der größten Herausforderungen werden würde, hätte er dennoch nicht gedacht: „Wer Vorurteile hat, dem kann ich nur sagen: Drei Tage in Berlin auf der Straße. Das macht Demut.“

Der 46-jährige Musiker und Extremsportler erlebt die katastrophalen Verhältnisse ohne Obdach drei Tage lang am eigenen Leib: In Berlin, definitiv die Metropole der Obdachlosigkeit. Hier sollen mindestens 10.000 Menschen auf der Straße leben. Es gibt Hilfsbedürftige an jeder Ecke. Joey hat nichts dabei, außer einer Plane und einem Schlafsack. Am Ausgangspunkt des Selbstversuchs, am Bahnhof Zoo, trifft er unter anderem auf Marcel, dem das Leben auf der Straße mit 29 Jahren bereits deutlich anzusehen ist. Gemeinsam betteln die beiden auf dem Ku’damm. Ergebnis nach zwei Stunden: 4,21 Euro. „Die Leute schauen an einem runter, aber nicht in die Augen. Allein vom Betteln kann man kaum leben“, weiß Marcel. Bei warmem Wetter schläft der junge Mann im Park, bei schlechtem Wetter – wie derzeit – sucht er sich eine städtischen Unterbringung. Doch die sind begehrt. Kaum ein Obdachloser weiß morgens, wo er in der nächsten Nacht unterkommt.

„Vielleicht muss man betrunken sein, um das auszuhalten“

Die Bahnhofsmission gibt zwei Mal am Tag Essen für Bedürftige aus – auch Joey sucht diese Möglichkeit auf. Doch er hat kein Glück, die Rationen sind bereits verteilt. Dafür trifft er dort Anja und Hans, ein Obdachlosen-Pärchen. Zusammen mit den beiden verbringt Joey Kelly die Nacht unter einer Brücke in der Nähe der Spree. „Ich lebe von einem Tag in den anderen hinein“, erzählt Anja. „Das Wichtigste ist trocken zu liegen.“ Anjas Hündin Pepper ist für sie vor allem in der Nacht wichtig, denn „sie schlägt an, wenn jemand deine Sachen klauen will.“ Die Obdachlosen sagen: Ein Auge ist immer offen. Joey weiß jetzt, was damit gemeint ist. „Ohne Matratze, nur im Schlafsack. Vielleicht muss man betrunken sein, um dieses Leben auszuhalten.“

Jeder Obdachlose kann Geschichten von Gewalt erzählen. Anja ist 31 Jahre und lebt bereits seit 14 Jahren auf der Straße. Hinter ihr liegt eine Heimkarriere als Kind, eine richtige Familie habe sie nie gehabt. Hündin Pepper sei ihr Ein und Alles: „Männer kannst du ersetzen, meinen Hund, meine beste Freundin, nicht.“ Anja ist wie viele: Alkoholikerin. Den Tag beginnt sie mit Korn, um „runterzukommen“. Im Laufe des Tages könnten es bis zu zwei Flaschen Wodka werden, die sie trinkt. Aussicht auf eine Wohnung hat sie kaum. Ihr neuer Freund Hans ist im Januar aus dem Knast gekommen. Er habe eine Geldstrafe von 750 Euro nicht begleichen können und sei deshalb eingefahren. Danach war seine Wohnung weg, sagt der 38-Jährige. Doch Hans bleibt zuversichtlich: „Ich habe einen Plan und werde mich da wieder rausholen.“ Solche und ähnlich Stories hört Joey überall: Hoffnung, die nur aus Worten besteht.

„Ich hatte bisher nichts Schönes in meinem Leben“

Den zweiten Tag verbringt Joey Kelly am Berliner Alexanderplatz mit Flaschensammeln und Betteln. Resultat seines kompletten Vormittags: zwei Flaschen, 16 Cent. Am Alex herrscht ein harter Konkurrenzkampf um das Pfand: Dutzende Flaschensammler, etliche Bettler und Schnorrer – es sei kaum etwas zu holen, sagt Kelly.

Am Nachmittag trifft er in der Warschauer Straße auf den 39-jährigen Dennis. Auch an ihm wird die bittere Realität des Obdachlosendaseins deutlich: „Meine Familie ist ein einziger Scheiß. Ich hatte nie etwas, was Freude bereitet hat. Ich habe schon dagelegen und an den Tod gedacht. Ich finde es nicht zu sterben. Ich hatte bisher nichts Schönes in meinem Leben.“ Dennis haust seit Oktober unter einer Brücke unter unfassbaren Zuständen. In dieser Nacht begleitet Joey ihn und schläft dort mit seinem Schlafsack in einer Mauernische. Die ganze Nacht ist es laut, an Schlaf ist wieder kaum zu denken.

Nach drei Tagen auf der Straße ist Joeys Fazit voll ehrlicher Demut: „Man kann froh sein, wenn man eine Aufgabe, eine Familie, einen Job und ein Dach über dem Kopf hat“, so der 46-Jährige. „Wer jammert soll selber mal so leben, dann relativiert sich fast alles im Leben.“ Wenn er sehe, wie die Menschen jahrelang ohne ein Obdach auskommen, unter extremen hygienischen und klimatischen Bedingungen hausen, dazu Alkohol, Drogen, schlechte Ernährung, dann „bewundert man die Robustheit des menschlichen Körpers. Es ist irre, wie viel der Mensch auszuhalten in der Lage ist.“ Freiwillig macht das allerdings wohl niemand, auch nicht nur für drei Tage.

Obdachlosenhilfe

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