Krankhafte Fettverteilung: Millionen Frauen leiden unter dem Lipödem – doch die Kassen zahlen eine Operation nur selten

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„Ich finde, ich sehe wie aus zwei verschiedenen Körpern zusammengebaut aus“, sagt eine der betroffenen Frauen zu stern TV. Und damit beschreibt sie, was in den meisten Fällen sichtbar ist: Typisch für ein Lipödem ist das unproportionierte Verhältnis des Oberkörpers zu Hüfte, Beinen und Gesäß. Bei einer an sich normal gebauten oder schlanken Frau können sich dort starke Fettpolster bilden. Was lange unbekannt war: Es handelt sich dabei um eine Krankheit, die vermutlich in Phasen starker hormoneller Veränderungen wie Pubertät, Schwangerschaft oder Wechseljahre ausgelöst wird und trifft vor allem Frauen. Für die Betroffenen ist das aber nicht nur ein kosmetisches Problem. Sie leiden unter starken Schmerzen, weil Fettpolster und verhärtetes Gewebe den Lymphfluss behindern. Medikamente, Sport und Diäten zeigen kaum Wirkung. In fortgeschrittenen Stadien müssen die Frauen ständig starke Kompressionskleidung tragen, selbst im Hochsommer bedecken sie sich mit langer Kleidung. Die Krankheit hat nicht selten auch psychische Auswirkungen. Linderung verschafft in der Regel nur eine drastische Reduktion des Fettgewebes durch eine teure Operation, die die Krankenkassen aber bisher nur in Ausnahmefällen bezahlen. Lipödem 11.01stern TV berichtete bereits vor zwei Jahren über das Lipödem – und wie belastend die Erkrankung für betroffene Frauen ist. Damals sprachen wir auch mit Patricia Halan. Wie viele andere auch, wusste sie lange nicht, was die Fettablagerungen bei ihr verursachte. Mit großer Disziplin trieb sie Sport, hielt strikt Diät, entwickelte zwischenzeitlich sogar eine Essstörung. Als sie die Diagnose „Lipödem“ erhielt, wusste Patricia Halan zwar endlich, was ihr Problem war. Eine bis dato tausende Euro teure Liposuktion konnte sie sich damals aber nicht leisten. „Ich wurde an den Beinen dann immer dicker, hatte viele Hämatome. Wenn man mich an den Beinen berührt hat, tat das teilweise sehr weh. Und der psychische Druck war natürlich auch enorm, weil man gefangen war im eigenen Körper – man konnte nichts ändern.“ Mittlerweile hat Patricia Halan an der Universitätsklinik Bonn zwei Eingriffe vornehmen lassen können – teilweise mit geliehenem Geld. Insgesamt zahlte sie rund 8000 Euro, doch das sei es ihr wert gewesen: „Ich kann kaum beschreiben, wie viel mehr Lebensqualität ich dadurch jetzt habe“, so die 25-Jährige.Saskia Atzerod_stv

Lipödem: „Warum soll man sich für eine Krankheit schämen?“

Auch Model und Reality TV-Teilnehmerin Saskia Atzerodt weiß, wie schwierig allein der Weg zur Diagnose sein kann und mit welchen Schwierigkeiten und Vorurteilen Betroffene im Alltag kämpfen. Saskia Atzerodt erfuhr eher durch Zufall, dass ihre Beschwerden an den Beinen vom Lipödem herrühren. „Das ist ständig schmerzhaft. Wenn man die Beine nach oben gelegt hat, hat es trotzdem weiter geschmerzt. Wenn man auf einem harten Untergrund gelegen hat, hatte man einen Druckschmerz, wenn man lange steht, dann werden die Beine immer schwerer. Das ist schon sehr unangenehm“, so die 26-Jährige. Die Influencerin ist mit ihrem Lipödem ganz bewusst an die Öffentlichkeit gegangen, um mehr Aufmerksamkeit und Verständnis für die Krankheit zu schaffen, sagt sie: „Wofür soll ich mich denn schämen? Dass ich eine Krankheit habe? Mir geht es genauso wie anderen Betroffenen. Und ich kämpfe auch für alle anderen, damit diese Krankheit mehr publik wird.“

Obwohl Saskia Atzerodt noch im Frühstadium der Krankheit war, bildeten sich bei ihr an den Oberschenkeln bereits Dellen und Gewebeverhärtungen. Für ein Model, das damit auch ihren Lebensunterhalt verdient, verheerend. Kompressionsstrümpfe und Lymphdrainagen können die Beschwerden lindern, das Krankheitsbild jedoch nicht beseitigen. Langfristig hilft nur die Entfernung der kranken Fettzellen. Saskia Atzerodt investierte selbst in diese OP und ging für die Liposuktion in die Klinik von Dr. Mehmet Atila. „Das ist definitiv ein medizinischer Eingriff und hat überhaupt nichts mit Kosmetik zu tun oder mit einem schönheitschirurgischem Eingriff“, so der Arzt und Spezialist auf dem Gebiet Lipödeme.

Anlaufstellen Lipödem

2020 könnte Liposuktion zur Kassenleistung werden

Deutschlandweit leiden bis zu drei Millionen Frauen unter einer mehr oder minder schweren Form eines Lipödems. Sie schämen sich, verstecken sich und ertragen die Schmerzen im Stillen. Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto ausgeprägter und belastender wird sie. Im Stadium 3 prägen sich die Fettwülste auch über Knien und Fesseln aus und behindern die Betroffenen sogar beim Gehen. Dennoch wird eine Liposuktion von den gesetzlichen Krankenkassen nur selten als notwendig erachtet, der therapeutische Nutzen sei bislang wissenschaftlich nicht ausreichend erwiesen, sagen Kritiker.

Für Saskia Atzerodt ist das vollkommen unverständlich: „Es wird ja diese Lymphdrainage bezahlt und die Kompressionsstrümpfe werden bezahlt, aber wenn ich das mal auf dreißig, vierzig Jahre summiere, dann komm ich da auch auf einen Riesenbetrag. Ich hoffe wirklich, dass da endlich was passiert.“  Tatsächlich könnte das bald der Fall sein, denn Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat angekündigt, die Liposuktion zur Kassenleistung machen zu wollen – zumindest aber die Entscheidung darüber zu ändern. Auch Spahn glaubt, dass die betroffenen Frauen nicht die Behandlung bekommen, die sie brauchen, sagte er. 2020 könnten sich Betroffene demnach erstmals auf vorgesehene Krankenkassenkosten operieren lassen. Ein Lichtblick für etliche Frauen, die täglich unter dem Lipödem leiden.

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