Mit Lappalien in die Notaufnahme: Notfallambulanzen sind hoffnungslos überlastet – steht das System kurz vorm Kollaps?

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Ein umgeknickter Fuß, hämmernde Kopfschmerzen, plötzliches Fieber – darf man in solchen Fällen in die Notaufnahme ins Krankenhaus? Oder muss man mit diesen Beschwerden warten, bis die Arztpraxis öffnet und sich dann stundenlang ins Wartezimmer setzen? Ganz zu schweigen von dem generellen Problem, kurzfristig einen Termin zu bekommen. Betroffene entscheiden sich offenbar immer häufiger für die Notfallambulanz im Krankenhaus. Die Folge: Die Notaufnahmen sind permanent überlastet. Etwa im Marienkrankenhaus in Hamburg Hohenfelde: Dort zählte man im gesamten Jahr 2010 noch 28.000 Patienten, die behandelt wurden; 2017 kamen 44.000 Menschen wegen ihres Notfalls in die Ambulanz. Ärzte und Pfleger berichten von zahlreichen Lappalien, mit denen sich das ohnehin zu geringe Personal beschäftigen muss, während die Zeit für echte Notfälle wie ein Schlaganfall oder schwere Verletzungen fehle. „Ich schätze, dass 40 bis 50 Prozent der Menschen, die hierher kommen – ob mit dem Rettungswagen oder übers Wartezimmer zu Fuß – nicht für eine Notaufnahme geeignet sind“, sagt Schwester Nathalie Tilgner.

Chefarzt Dr. Michael Wünning sieht einen Grund dafür er in einer veränderten Haltung der Menschen: „In einer Gesellschaft, in der wir rund um die Uhr Bücher und Essen bestellen und frei Haus geliefert bekommen, möchten wir auch Gesundheit als Konsumgut jederzeit und möglichst umfassend zur Verfügung haben.“

INFO Ambulanz oder nicht

„Not macht erfinderisch“

In der Notaufnahme muss jeder Patient in Augenschein genommen werden. Die dringlichen und die weniger dringlichen Fälle. Im Marienkrankenhaus kümmern sich drei Krankenschwestern um bis zu 130 Patienten pro Tag. In der Notfallambulanz dort treffen wir eine junge Dame, die sich zu Hause den Fingernagel eingerissen. Das Nagelbett blutet. „Es tut höllisch weh, immer wenn ich dagegen komme“, erklärt die Frau. „Morgen ist Sonntag, da hat kein Arzt auf. Bis Montag zu warten dauert mir dann doch zu lange. Da komme ich jetzt schnell hierhin, ich wohne um die Ecke.“

Eine andere Frau hat seit mehreren Tagen Schmerzen im Knie. In der Woche habe sie keine Zeit gehabt, zum Arzt zu gehen. Deshalb sei sie dort. Sie kam mit dem Fahrrad in die Notaufnahme. Da sie bereits drei Stunden wartet, beklagt sie sich lautstark: „Es kotzt mich einfach an!“ Sie wisse zwar, dass das Personal nichts dafür könne, es läge eben an der Unterbesetzung.

An der Anmeldung kommen laufend neue Patienten an. Eine junge Dame gibt an, sie sei die Treppe heruntergestürzt und habe starke Rückenschmerzen. Auch sie empfindet ihre Schmerzen als zu groß, um zu Hause zu bleiben. Hier erhofft sie sich Erleichterung. „Die Schmerzen waren jetzt doch so schlimm, sie behindern mich im Sitzen, im Stehen, im Gehen. Ich weiß, dass ich gleich wieder nach Hause geschickt werde ohne großartig behandelt zu werden, aber Not macht erfinderisch.“

Wegen langer Wartezeit vor der Klinik einen Krankenwagen gerufen

Von erfinderischen Maschen kann Krankenschwester Natalie Tilgner vielfach berichten – besonders unter den weniger dringlichen Fällen. Sie erzählt von einer Patientin mit Rückenschmerzen, die wohl zwei bis drei Stunden hatte warten müssen. Schließlich sei sie vom Wartezimmer vor das Haus gegangen und habe sich einen Krankenwagen gerufen – um dann einmal herum direkt in die Notaufnahme gefahren zu werden. „Die dürfen sie natürlich nicht ablehnen, die müssen sie mitnehmen“, so Tilgner. „Da wir wussten, dass sie vorher im Wartezimmer saß, haben wir sie wieder dorthin gesetzt.

Was viele der Wartende nicht mitbekommen: In der Notaufnahme geht es im Hintergrund um Leben und Tod, wenn bis zu 40-mal täglich der Rettungswagen ankommt. Im Marienkrankenhaus wird während unserer Dreharbeiten ein 92-jährige Patient mit Grippesymptomen eingeliefert, doch es ist schnell klar: Die Lage ist lebensbedrohlich. Der Mann leidet an einer Sepsis. Ein Urin-Keim hat sich auf den ganzen Körper ausgebreitet, so dass der Patient unverzüglich in den Schockraum gebracht wird, um ihn in den nächsten Minuten im Ernstfall wiederbeleben zu können. „Von den 17 Patienten, die jetzt hier sind, ist nur dieser Patient wirklich dringend. 10 Patienten haben keine deutlich dringenden Probleme und fünf Patienten könnten auch zum Hausarzt gehen“, sagt Chefarzt Michael Wünning.

Schubsen, Stoßen, mit Waffen bedrohen: Notaufnahmen engagieren eigene Security

Weil sich jeder im Recht sieht, schnell behandelt zu werden, komme es sogar zu Gewaltausbrüchen und zahlreichen verbalen Verfehlungen gegenüber anderen Patienten und Personal, berichtet Dr. Gabriele Groth, Leitende Ärztin der Notaufnahme in der Hamburger Asklepios Klinik: „Es kommt wirklich zu körperlichen Übergriffen. Man wird auch niedergeschubst, gestoßen, sogar auch geschlagen. Manchmal kommt auch einer mit einer Waffe auf einen zu. Das kennen wir hier alles, besonders häufig bei alkoholisierten oder drogen-intoxidierten Personen. Aber auch bei langen Wartezeiten oder wenn Angehörige das Gefühl haben, wir sind nicht schnell genug.“  Viele Notaufnahmen müssen deshalb mittlerweile eine eigene Security beschäftigen.

Doch das ist nicht die einzige Maßnahme, die den Kliniken helfen kann, wenn es darum geht, dem fortschreitenden Ansturm Herr zu werden. Es braucht eine lückenlosere Versorgung der Menschen außerhalb der Krankenhäuser. Und wir müssen wieder umdenken: Die Notaufnahme ist nicht einfach eine 24-Stunden-Arztpraxis, für die man keinen Termin braucht, sondern ein Ort nur für medizinische Notfälle. Noch dazu deckten sich die Kosten für die Notfallambulanzen nicht mal annähernd. Laut Dr. Wünning erhält das Marienkrankenhaus pro Patient durchschnittlich 35 Euro erstattet. „Die Kosten liegen faktisch aber bei etwa 135 Euro je behandelten Patient. Alleine aufgrund der Finanzierung kann die Notaufnahme personell wie räumlich gar nicht so schnell mitwachsen, wie uns Patienten vermehrt aufsuchen“, so der Leiter der Notfallambulanz.

Für die Mediziner ist klar: Die Notaufnahmen in Deutschland müssen dringend umstrukturiert werden – denn sonst droht nicht nur den echten Notfällen, sondern auch dem ganzen System der Kollaps.

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