Ein Foto aus Winsen in Niedersachsen brachte vor wenigen Wochen ganz Deutschland in Aufruhr: Ein Wolf spaziert mitten in der Stadt am Zaun einer Kita entlang – am helllichten Tag. Glücklicherweise war es ein Sonntag, kein Kind war dort. Doch die Szene, die ein Winsener Bürger zufällig fotografierte, ist kein Einzelfall. Seit Wochen gibt es in der Stadt immer wieder Nahbegegnungen mit Wölfen, die sich Grundstücken nähern oder im Ort durch die Straßen laufen. Die Tiere scheinen ihre natürliche Scheu vor dem Menschen zu verlieren. Was für Schäfer und Landwirte schon länger Grund zur Sorge ist, beunruhigt zunehmend auch die Bürger. Sie haben Angst um ihre Kinder, um ihre Hunde – manche Winsener trauen sich nur noch tagsüber am Stadtrand zu joggen.
Laut der Landesjägerschaft gab es in den Jahren 2011/2012 in Niedersachsen 15 bestätigte Wolfsmeldungen, bei denen etwa nachgewiesen war, dass Menschen einen Wolf gesehen hatten oder ein Wolf ein Tier gerissen hatte. Fünf Jahre später gab es 948 bestätigte Wolfsmeldungen. Im März 2017 wurden in ganz Deutschland 60 Wolfsrudel gezählt, zu denen jeweils fünf bis 10 Tiere zählen. Hinzu kommen 14 Wolfspaare und drei Einzeltiere. Jetzt, ein Jahr später, gehen die Experten schon von deutlich mehr Wölfen aus, die sich insbesondere in den nord-östlichen Bundesländern und in Niedersachsen wieder heimisch geworden sind. In ganz Deutschland geht man jetzt von mindestens 500 Wölfen aus.
karte wolfsmonitoring
Wolf knurrte Kinder an
In der Umgebung von Winsen an der Aller lässt die anfängliche Freude über die Rückkehr des Wolfes allmählich nach, da die Tiere zunehmend nicht nur im Wald, sondern auch in Wohngebieten anzutreffen sind. Dirk Oelmann ist Bürgermeister von Winsen und er hat eine klare Meinung zu dem Thema: „Wölfe gehören in den Wald, nicht in die Stadt.“ Der SPD-Politiker sieht die Begegnung von Mensch und Wolf kritisch. Die Eltern seien zu Recht beunruhigt: „Für mich stellt sich die Frage: Was sieht ein Wolf, wenn er ein Kleinkind im Sandkasten krabbeln sieht? Ist das für ihn dann ein Mensch oder vielleicht auch Beute?“
Das sollten Sie über Wölfe wis… Fragen und Antworten kompakt (2179438)stern TV traf in Winsen auch Anne Friesenborg, die mehrfach an ihrem Gartentor einen Wolf beobachtet hat. Die 62-Jährige beschäftigt sich seit drei Jahren privat mit der Thematik und versorgt die Bürger regelmäßig mit Informationen über die Wölfe. Sie selbst habe keine Angst vor den Tieren, dafür gäbe es erst einmal auch keinen Grund. Ein Vorfall Ende Januar sei ihr jedoch im Gedächtnis geblieben – als nämlich ein Wolf auf spielende Kinder getroffen sei: „Der Wolf lief über die Straße und die Kinder kamen ihm entgegen. Da hat er sie angeknurrt. Das ist nicht unbedingt schlimm, aber wenn der sich in die Enge gedrängt fühlt, wissen wir nicht was passiert.“ Anne Friesenborg ist im Dorf inzwischen Ansprechpartnerin für alles rund ums Thema Wolf und dokumentiert, wann und wo die Tiere auftauchen. Für sie und das gesamte Dorf sei wichtig, dass der Wolf seine natürliche Scheu wiedererlange. „Der Wolf hat seine Berechtigung hier zu leben. Das will keiner anzweifeln. Aber wir müssen das Zusammenleben so einrichten, dass die Landbevölkerung dem Wolf nicht letztlich den ganzen Lebensraum zur Verfügung stellt.“
Mittlerweile wird auch im Bundestag wird das Thema Wölfe diskutiert. Union und SPD wollen die Verbreitung der Wölfe künftig stärker kontrollieren und auch Nutztiere besser vor Angriffen durch Wölfe schützen. „Wir müssen die Ausbreitung des Wolfes managen, auffällige Wölfe müssen konsequent kontrolliert, zügig vergrämt und nötigenfalls erschossen werden, um eine Gewöhnung der Wölfe an den Menschen zu unterbinden“, sagte Niedersachsens Umweltminister Olaf Lies (SPD) zu den Vereinbarungen in den Koalitionsverhandlungen.
Wenn die Wölfe näher kommen Geschützte Wildtiere in Deutsc… (2178799)Wann wird ein Wolf zum „Problemwolf“?
400 Kilometer von Winsen entfernt, wurde in Sachsen Anfang Februar ein auffälliger Wolf zum Abschuss freigegeben und – mit einer artenschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigung – getötet. Er soll Ende Dezember zwei Hunde getötet und sich mehrfach Grundstücken genähert haben. Dies sei bundesweit erst der zweite Wolf der wegen auffälligen Verhaltens getötet worden sei, sagte das Bundesamt für Naturschutz. Die Biologin Ilka Reinhardt, Leiterin des Lupus Instituts in Sachsen, hat die Wiederbesiedelung der Wölfe in Deutschland von Anfang an begleitet und berät inzwischen Bund und Länder in Wolfangelegenheiten. Reinhardt meint, dass die Angst vor Wölfen daher rührt, dass die Menschen es einfach nicht mehr gewohnt sind, mit diesen Tieren zusammenzuleben. Im Lupus Institut ist man überzeugt, dass die Tiere sich weiter ausbreiten werden. Laut Ilka Reinhardt haben sie deutschlandweit keinem Menschen Schaden zugefügt. Falls sie sich aber doch auf kurze Distanz nähern, könnte das als problematisches Verhalten eingestuft werden – und nötigenfalls ein Abschuss erfolgen. Wenn Wölfe Nutztiere reißen, könne man hingegen keinesfalls von „problematischem Verhalten“ sprechen: „Wölfe sind große Fleischfresser. Die wissen nicht, dass sie zwar Rehe töten dürfen, aber keine Schafe. Wenn man das nicht möchte, muss man eben die Schafe schützen“, so die Wolfs-Expertin.
Dass das gar nicht einfach ist, weiß man unter anderem in Faßberg in der Lüneburger Heide, wo sich Schäfer Hans-Erich Stolz um rund 700 Heidschnucken kümmert. Der 63-Jährige bringt seine Schäfchen jeden Tag auf die Felder, ab April bleiben die Tiere auch nachts wieder draußen, was der Herde – trotz des vom Wolfsbüro empfohlenen 1,40-Meter hohen Zauns – im vergangenen Jahr zum Verhängnis wurde: Drei Wolfsrisse binnen vier Wochen. Im August starben an den Folgen eines Wolfsangriffs sogar 20 Schafe. Zwar gab es dafür von den Behörden eine angemessene Entschädigung, dennoch zerbrach es dem erfahrenen und leidenschaftlichen Schäfer das Herz, sagt er: „Es war so schmerzhaft. Bei mir ist das so, als wenn ich ein Kind verloren hätte. Ich hänge wirklich mit Herzblut an meinen Tieren. Und man fühlt sich so machtlos.“ In diesem Jahr sollen Hof und Herde durch doppelte Elektrozäune vor Wolfsangriffen geschützt werden.
Im 40 Kilometer entfernten Winsen ist Bürgermeister Dirk Oelmann auch der Meinung, dass man dem Wolf klare Grenzen aufzeigen muss. Er fordert, die Population auf einem deutlich niedrigerem Maß zu halten. Der Wolf gehöre in den Wald – und habe in der Stadt, wie in Winsen, nichts zu suchen: „Für mich ist ein Problemwolf ein Wolf, der die Scheu vor den Menschen verloren hat. Denn dann kann ich die Risiken für alle anderen, die in diesem Lebensraum ebenfalls unterwegs sind, nicht mehr abschätzen.“