Sabine Zunker kann noch immer nicht glauben, was passiert sein soll: Ihre Mutter Sylvia (43), ihr Stiefvater Marco (41) und ihre 12-jährige Schwester Miriam Schulze waren von mehr als zwei Jahren aus ihrem Haus in Drage (bei Hamburg) verschwunden, ohne Vorzeichen, ersichtlichen Grund. Und ohne Abschied. Eine Woche später fand man Marco Schulze tot in der Elbe. Von Mutter und Tochter fehlt bis heute jede Spur. Für Sabine Zunker ist das schwer zu ertragen, noch immer muss sie weinen, wenn sie von ihrer Schwester spricht: „Ich habe sie geliebt. Sie war lebhaft, lustig, quirlig!“ Die 26-Jährige hat seit mehr als zwei Jahren keine Familie mehr – und weiß noch immer nicht, was passiert ist. Sie wünsche sich so sehr irgendeine Gewissheit. „Ich hoffe, dass sie bald mal gefunden werden, damit ich sie nach Hause holen kann. An einen Ort, an dem ich trauern kann, an dem ich überhaupt anfangen kann zu trauern.“
War es ein erweiterter Suizid?
Was ist an jenem 22. Juli 2015 passiert? Eine Theorie der Polizei: Marco Schulze könnte seiner Tochter Miriam und seiner Frau Sylvia das Leben genommen haben, bevor er selbst Suizid beging. Doch es gibt auch Zweifel: „Die Familie wurde uns als sehr harmonisch dargestellt“, sagt Chefermittler Michael Düker, der die „Soko Schulze“ damals leitete. „Es ist der Eindruck entstanden, dass es sich um einen liebevollen Familienvater handelte.“ Sabine Zunker hat das genauso empfunden, sagt sie. Die heute 26-Jährige ist die Tochter von Sylvia Schulze aus einer früheren Beziehung. Ihre Mutter war jahrelang alleinerziehend, bevor sie Marco Schulze traf. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter sei nicht immer einfach gewesen. Doch selbst die damals Elfjährige habe bemerkt, dass die neue Beziehung ihrer Mutter, die sich zuvor habe alleine durchkämpfen müssen, guttat. „Da kam jemand in ihr Leben, der ganz viel Verständnis reingebracht hat“, erzählt Sabine Zunker. Auch für sie selbst als Stieftochter: Marco Schulze sei auf eine sehr freundschaftliche Art auf sie zugekommen und habe schnell das Vertrauen von Sabine gewonnen. Als ein Jahr später die kleine Miriam zur Welt kam, sei ihr Stiefvater in seiner neuen Vaterrolle völlig aufgegangen. Das Familienglück schien perfekt. Zwischen Marco und seiner Tochter Miriam entstand eine besonders enge Bindung. Miriam wuchs zu einem fröhlichen Mädchen heran, ihre große Leidenschaft waren die Pferde. Ihr Vater half an den Wochenenden sogar auf dem Pferdehof aus, damit seine Tochter dort umsonst reiten konnte. Ihre Eltern meldeten Miriam zu einer Reiterferienwoche an, das Paar buchte Urlaub – nichts deutete darauf hin, dass sich bald alles ändern würde.
Was geschah am 22. Juli 2015 in Drage?
Am letzten Schultag vor den Sommerferien blieb Miriam zu Hause, weil sie starke Bauchschmerzen hatte. Marco Schulze hatte sich frei genommen und kümmerte sich um seine Tochter. Seine Frau Sylvia fuhr zu ihrer Arbeit in der Bäckerei eines Supermarkts. Am Nachmittag bekam sie dort eine Nachricht von ihrem Mann, dass es Miriam schlechter gehe und sie nach Hause kommen solle. Sylvia Schulze verließ ihre Arbeitsstelle am 22. Juli gegen 16:20 Uhr. Danach verliert sich ihre Spur.
INFO PolizeisucheZwei Tage später galt die Familie als vermisst. Polizisten durchsuchten das Haus der Schulzes, Hundertschaften mit Spürhunden durchkämmten die Umgebung. Ohne Erfolg. Der Verbleib der Familie blieb völlig unklar – bis eine Spaziergängerin eine Woche später einen leblosen männlichen Körper in Lauenburg in der Elbe entdeckte, 20 Kilometer von Drage entfernt. Es war die Leiche von Marco Schulze. Die Polizei konnte auch ermitteln, dass sich der 41-Jährige an einem 25 Kilogramm schweren Betonklotz befestigt hatte, den er von einer nahe gelegenen Baustelle nahm. Fremdeinwirkungen ausgeschlossen. Der ehemalige Soko-Leiter Michael Düker vermutet, dass Marco Schulze nicht damit gerechnet hatte, dass seine Leiche vom Elbgrund aufsteigen würde: „Wir glauben, dass er vermutet hat, dass er unten bleiben würde und nie gefunden worden wäre.“
Die Polizei ging schnell von einem geplanten, erweiterten Suizid aus, dass Marco Schulze seine Frau und Tochter mit in den Tod genommen hatte. Für Sabine Zunker ist das kaum vorstellbar, da dies in keiner Weise zu ihren eigenen Erinnerungen an ihren Stiefvater passe: „Ich habe versucht, mich in ihn hineinzuversetzen, seine Gedanken zu fassen. Ich habe mir überlegt: Was müsste mir passieren, damit ich so etwas überhaupt denke? Mir ist nichts eingefallen, gar nichts“, so die 26-Jährige.
Leichen noch immer nicht gefunden
Drei Wochen nach dem Fund von Marco Schulze meldete sich eine Zeugin, die die Familie am Tag ihres Verschwindens am Seppenser Mühlenteich bei Buchholz gesehen haben will – nicht weit von Sabine Zunkers Wohnort entfernt. Kurz darauf fanden Spürhunde der Polizei tatsächlich Spuren der Drei am Ufer des Teichs, nur Marco Schulzes Spur führte von dort auch wieder weg. Taucher der Polizei suchten den morastigen Mühlenteich zwei Tage lang ab, fanden jedoch nichts. Laut Michael Düker erschwerte der Morast am Ufer die Suche, da dort alles versinken würde. Und: Das rekonstruierte, enge Zeitfenster spräche gegen die Theorie, dass sich die Leichen von Miriam und Sylvia Schulze in dem Teich befinden. Denn Marco Schulze hatte an jenem Tag um 17:25 und um 19:33 Uhr vom Festnetz zu Hause zwei Telefonate geführt. Für die Tat blieben ihm somit knapp zwei Stunden. Allein die Fahrtzeit von Drage zum Seppenser Mühlenteich und zurück beträgt etwa anderthalb Stunden. „Abzüglich der Fahrzeiten hätte Marco Schulze nur 30 Minuten gehabt, um die Tat zu vollenden, also um zwei Menschen zu töten, sie entsprechend zu verpacken, zu beschweren und ins Wasser zu bringen. Er selbst wäre zudem auch in diesem Morast eingesunken. Es gab keinerlei Spuren in seinem Fahrzeug, die auf eine Verschmutzung oder Ähnliches hindeuten“, so Ermittler Michael Düker.
Der Fall gibt den Ermittlern bis heute große Rätsel auf. Warum sollte Marco Schulze die Leichen so sorgfältig verstecken, wenn er sich danach ohnehin das Leben nehmen will? Und was ist sein mögliches Motiv? Für Sabine Zunker sind das quälende Fragen, die sie sich jeden Tag aufs Neue stellt. Dennoch könne sie keinen Hass auf ihren Stiefvater empfinden, sagt sie: „Ich werde niemals Hass oder schlechte Gefühle für ihn hegen können. Das geht gar nicht“, so die 26-Jährige. Ihre einzige Erklärung: „Eventuell war er so belastet und verzweifelt, dass das Päckchen auf seinen Schultern nicht länger tragbar war. Und wenn Menschen verzweifelt sind, machen sie auch Dinge, nicht zu ihnen passen. Vorstellen kann ich es mir nicht – aber es scheint trotzdem so zu sein.“
Hinweis Suizid