stern TV-Psychoexperiment: Wie habgierig sind die Deutschen?

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Gier und Habgier gelten gemeinhin als besonders verwerfliche Eigenschaften des Menschen. Es wurden deswegen Kriege geführt und die Ärmsten und Schwächsten übervorteilt. In der Theologie ist Gier eine Sünde und im Strafrecht gilt sie als niederer Beweggrund für eine Tat. Doch ist Gier wirklich so verwerflich? Ist sie nicht eigentlich nur ein nachvollziehbares Streben nach Profit? Ist ein vernünftiger Eigennutz nicht auch zutiefst menschlich? Mit diesen Fragen beschäftigen sich längst nicht nur Theologen oder Moralprediger, sondern auch Psychologen und Wirtschaftswissenschaftler. Beispielsweise Prof. Dr. Joachim Weimann von der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg, der sagt: „Es gibt den gesunden Egoismus, den wir alle brauchen. Gier beginnt vermutlich da, wo Menschen anfangen auf andere überhaupt keine Rücksicht mehr zu nehmen und es in Kauf nehmen, dass es anderen schlechter geht – nur, damit es mir besser geht.“ stern TV hat zusammen mit Joachim Weimann also ein neues Psychoexperiment gestartet: Wie habgierig sind die Deutschen?

Wie reagieren Menschen, wenn ihnen ein Fremder Geld anbietet? Inspiriert von einem ähnlichen Experiment aus den USA haben wir Lockvogel Martin mit einem Mantel losgeschickt, auf dem jede Menge Geldscheine angeheftet waren. In seinen Händen ein Schild: Nimm, was du brauchst. Wer greift zu, wie viel nehmen die Leute – also wer ist habgierig? Und: Verhalten sich Ostdeutsche und Westdeutsche unterschiedlich? Dazu fand das Experiment einmal im gutbürgerlichen Westberliner Stadtteil Zehlendorf statt, wo noch heute hauptsächlich Wessis wohnen – und einmal im Osten der Stadt, in Köpenick. Dort leben auch derzeit fast ausschließlich Ostdeutsche der ehemaligen DDR. Der Hintergrund war folgender: Wirtschaftsexperte Joachim Weimann hatte 1999 und 2011 Studien durchgeführt, die tatsächlich einen Unterschied in west- und ostdeutschem Sozialverhalten ergaben.

Ossis und Wessis im Vergleich: Haben Wirtschaftssysteme Einfluss auf das Verhalten?

In den beiden Tests schauten die meisten Passanten Martin und den Mantel nur kurz an und gingen dann weiter. In Zehlendorf blieb erst nach 11 Minuten ein älteres Ehepaar stehen. Doch auch sie wollten kein Geld, sie hätten alles, was sie brauchen. Ein junger Mann erkundigte sich nach der Aktion, machte ein Selfie mit Martin, nahm aber ebenfalls kein Geld. Auf die Frage, warum er nichts wollte, antwortete er: „Weil ich glaube, dass es Menschen gibt, die das nötiger haben als ich.“ Nach einer geschlagenen halben Stunde nahm sich die erste Frau zaghaft einen Zwanziger von Martins Mantel. Ihr Begleiter stieg mit ein, nahm ebenfalls 20 Euro. Die Bilanz nach zwei Stunden: Von den acht Personen, die Martin angesprochen haben, nahmen sich drei Geld, durchschnittlich 20 Euro.

Im ebenfalls gutbürgerlichen Stadtteil Köpenick im Osten blieb nach fünf Minuten eine junge Mutter stehen und nahm vom Mantel des Lockvogels 30 Euro. „Wenn man denkt, dass man das gebrauchen kann, dann kann man doch ruhig zugreifen“, erklärte sie. Ein älterer Mann erkundigte sich zunächst, ob er auch gleich einen „Fuffi“ nehmen könnte. Wofür, wollte er nicht verraten – und reagierte äußerst aggressiv auf eine kurze Nachfrage von stern TV. „Kein Interesse – hauen Sie ab!“, rief er.

Ein anderer Passant hatte es ebenfalls auf den größten Schein am Mantel abgesehen. Die 50 Euro brauche er, weil er Schulden bei Kumpels habe. Grundsätzlich würde er für sich schon den besten Anteil rausholen, wenn es irgendwo etwas zu verteilen geben, so der Mann. Die Bilanz nach zwei Stunden: Von den acht Ostberlinern, die Martin ansprachen, haben doppelt so viele Leute (6) Geld genommen. Im Schnitt 42,50 Euro. Den Unterschied im eigennützigen Verhalten sieht Experte Joachim Weimann auch 28 Jahre nach der Wende noch immer in der Prägung durch zwei Unterschiedliche Wirtschaftssysteme. „In Ostdeutschland waren die Menschen während der DDR in einer extremen Knappheitssituation. Es gab nie das, was man brauchte. Jeder musste dafür sorgen, dass er sein ganz privates Knappheitsproblem gelöst bekam“, so Weimann. Diese Handlungsnormen würden teilweise noch an die nächste Generation weitergegeben, die die DDR gar nicht mehr miterlebt habe. „Im Westen gab es diese extreme Knappheit nicht. Das heißt, dort war die Notwendigkeit, sich in diesem Sinne eigennützig zu verhalten, auch nicht so ausgeprägt.“ Dennoch könne die Schlussfolgerung nicht ein neues Vorurteil sein, schränkt er ein, sondern lediglich eine Aussage über die Wirkung von Wirtschaftssystemen auf das Verhalten einzelner Menschen.

Macht Lebenserfahrung weniger eigennützig?

Gibt es in puncto Eigennutz und Habgier dann vielleicht auch einen Unterschied zwischen Jung und Alt? An einer Imbissbude in Berlin-Mitte haben wir getestet, wie die Menschen auf zu viel Wechselgeld reagieren. Von den acht jungen Personen steckten sechs das Geld ein – bis zu 30 Euro zu viel! Bei den alten waren es nur drei Personen, die der Kassiererin nichts sagten. Genau das ist Gier: Gewinn machen auf Kosten anderer. In diesem Test handelten jüngere Menschen also gieriger. „Vielleicht muss man selbst einmal in der Situation gewesen sein, dass man darunter leidet, dass ein anderer ein bisschen zu gierig war. Wenn man das mal war, dann hat man ein Gespür dafür, was man den anderen antut“, so die Erklärung von Prof. Weimann. Dadurch würden ältere Menschen in solchen Situationen häufiger an andere denken und weniger eigennützig, sondern eher empathisch handeln. Tatsächlich erklärte eine ältere Dame, nachdem sie die Kassiererin auf ihren Irrtum aufmerksam gemacht hatte: „Ich habe selbst mal im Verkauf gearbeitet und weiß, wie das ist, wenn man abends die Kasse abrechnen muss und es stimmt nicht.“

Gierige Menschen lernen weniger aus ihren Fehlern

In unseren Test handelt es sich natürlich lediglich um Stichproben und rein zufällig ausgewählte Menschen. Doch unterscheiden sich gierige Menschen wissenschaftlich messbar von bescheidenen? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Psychologe Patrick Mussel an der FU Berlin, der ein Experiment das Risikoverhalten erforscht, indem Testpersonen in einem Computerspiel mit vermeintlich riskanten finanziellen Investitionen spielen: Sie können Luftballons aufblasen lassen, die virtuellen Geldsummen entsprechen. Das Risiko, dass der Ballon platzt, steigt dabei immer weiter. Die Hirnstrommessung per EEG zeigt, dass das Zerplatzen der Ballons bei den Probanden unterschiedlich starke negative Reaktionen auslöst – ein Negativfeedback, das bei einigen Kandidaten zu einem behutsameren Spiel führte. Bei den gierigen Probanden fiel dieses Negativfeedback allerdings deutlich geringer aus, so dass sie ihr Verhalten nicht anpassten. Die Schlussfolgerung der Forscher: Gierige Menschen lernen nicht gut aus Fehlern und handeln deshalb weiterhin viel risikofreudiger.

Solange gierige Menschen lediglich in einem Computerspiel alles riskieren, ist das unbedenklich. In der realen Wirtschaft könne ihre Unfähigkeit zu lernen aber zu einer finanziellen Katastrophe führen, meint Joachim Weimann: „Wenn jemand beispielsweise über Investitionen entscheidet, die nicht nur mit dem eigenen Geld durchgeführt werden, sondern mit dem Geld anderer, ist das ein Problem. Etwa auf dem Finanzmarkt. Das könnte dann in der Tat sehr negative Folgen für uns alle haben, wie wir in der Finanzkrise gesehen haben.“

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