413 Ansichtskarten aus der Vergangenheit: Wer war Clara Heidenreich? – Auf den Spuren einer Lebensgeschichte in Postkarten

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Volker Genius ahnte nicht, welch einen Schatz er hütete, als er das Postkartenalbum im vergangenen Jahr mit ins stern TV-Studio brachte, um es als Antiquität schätzen zu lassen: 413 Postkarten aus sechs Jahrzehnten, sorgfältig aufgeklebt in einem alten Album. Fast alle waren an eine gewisse Clara Heidenreich aus Weimar adressiert. Volker Genius kannte diese Frau nicht:  „Das ist aus dem Nachlass meines Stiefvaters. Woher er es hat, weiß ich nicht“, so der Bonner.

Die erste Karte im Album wurde am 4. Oktober 1894 abgestempelt, die letzte am 3. Juli 1948. „Das ist ein sehr seltenes Objekt, wirklich ein Stück Geschichte“, so Dr. Arno Barnert von der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, die die Sammlung inzwischen gekauft hat. Für stern TV war das Album der Anfang einer außergewöhnlichen Spurensuche: Wer war diese Frau, die damals ihr Leben lang Postkarten aus aller Welt bekam und diese wie einen Schatz hütete? Was ist aus ihr geworden? Clara Heidenreich war nicht etwa eine Frau von Welt oder gar adelig, sondern ein bürgerliches Mädchen. Doch alles nahm offenbar seinen Anfang, als Claras Vater Georg Heidenreich für den Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach als Kammerdiener arbeitete. So heißt es auf einer Karte beispielsweise:

30.12.1900
Möge das neue Jahr auch recht bald Genesung für die Königliche Hoheit, den Großherzog, bringen. Der war wahrscheinlich auch krank, der arme Mensch!

23.03.1905

Dear Miss! Many greets send you Frederick. I have again free. (…) I have sold my a new English book and you can see to it at Friday.It greet you Frederick and Georg

Liebes Fräulein Heidenreich! Auch Sie sollen einen Kartengruß von mir bekommen. Hier wohnen meine Zöglinge und ich. (…)

stern TV hat gemeinsam mit Volker Genius das Haus in Weimar besucht, in dem Clara Heidenreich vor fast 150 Jahren mit ihrem Vater im 2. Stock gelebt hatte: das Jägerhaus in der Marienstraße 5 – heute Teil der Bauhaus-Universität. Dort, wo einst auch Künstler wie Johann Wolfgang von Goehte mit seiner damaligen Freundin lebten. „Und es war hier auch immer eine Zeichenschule“, weiß Volker Genius.

Die letzte Karte erreichte Clara in Bonn

Die letzte Karte des Albums von 1948 ging allerdings nicht nach Weimar, sondern nach Bonn: in die Lessingstraße 35. Adressiert an eine Clara Jakobs. Im Archiv der Stadt fand stern TV einen Mikrofilm eine Todesanzeige, nach der Clara Jacobs (geborene Heidenreich) 1950 in Bonn gestorben war. In tiefer Trauer: Johannes Jacobs und Familie, stand darunter. Demnach hatte Clara Heidenreich vermutlich einen Johannes Jacobs geheiratet. Das Stadtarchiv fand in den uralten Originalen für stern TV die Heiratsurkunde der beiden, sowie einen weiteren Hinweis: Das Paar hatte eine Tochter, die 1941 geheiratet hatte. „Wir sehen an der Hausliste der Lessingstraße 35, dass die 1918 geborene Tochter einen Paul Kratzsch geheiratet hat“, erklärt der Leiter des Stadtarchivs. Die nächste Generation waren demnach Maria-Luise Jacobs und ihr Ehemann Paul Kratzsch, die möglicherweise Kinder hatten – und die noch leben könnten! „In der Tat ist ein Enkelkind von Clara Heidenreich-Jacobs im Oktober 1947 nach Bachem bei Köln in einen Ortsteil von Frechen verzogen ist“, bestätigt der Archivleiter.

FS Postkarten

Eine Spur zur Enkeltochter

Auch in Frechen konnte der Stadtarchivar weiterhelfen: Laut ihm sei die alte Brikettfabrik 1947 der Hauptarbeitgeber in Frechen gewesen. Sollte Paul Kratzsch, der Schwiegersohn Clara Heidenreichs, dort gearbeitet haben, so habe er womöglich in der Nähe gewohnt. Eine weitere Hausliste brachte den Beweis: „Er ist am 27.10.1947 in die Gleueler Straße 12 gezogen, und am 13.11.1947 schon wieder ausgezogen“, so der Archivar. Paul Kratzsch war also nach nur 18 Tagen, die er unter dieser Adresse gewohnt hatte, zurück nach Wintersdorf in seine alte Heimat in Thüringen gezogen – zusammen mit dem gemeinsamen Kind von ihm und seiner Frau Maria-Luise. Der tragische Grund: Seine Frau, die Tochter Clara Heidenreichs war mit nur 28 Jahren an Tuberkulose gestorben. Ihr Kind jedoch lebt noch – und heißt Marie-Luise Dumschat.

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Der Frechener Archivar fand mithilfe des zuständigen Stadtarchivs in Thüringen eine Adresse in Altenburg, wo die Enkelin heute noch wohnt. Und: Sie hatte beim Treffen mit stern TV eine weitere Überraschung: „Darf ich Ihnen meinen Bruder vorstellen? Auch ein Enkel von Clara Heidenreich: Georg Kratzsch“, so Marie-Luise Dumschat bei der Begrüßung. Der zweite Enkel heißt genauso, wie Claras Vater hieß: Georg. Und endlich bekam Clara Heidenreich anhand eines Fotos auch ein Gesicht, ebenso wie ihr Mann Johannes. „Eine recht attraktive Frau, sehr wohl erzogen“, erzählt die Enkelin. „Dadurch konnte sie sich auch behaupten. Sie war als Kinderbetreuerin tätig und ist dann Krankenschwester geworden.“ Ihr Mann Johannes Kratzsch sei bei einem Gasangriff im Krieg verwundet worden und in Weimar ins Lazarett gekommen, weiß Georg Kratzsch. „Da muss es irgendwie gefunkt haben obwohl sie etwas älter war als er“, so der Enkel. Clara Heidenreich war sogar 17 Jahre älter, als ihr Mann Johannes.

Ein kleines Wunder

Die beiden Nachfahren von Clara Heidenreich freuen sich über den Schatz ihrer Großmutter: „Dass das Album nach so vielen Jahren wieder auftaucht, ist ein kleines Wunder!“ Clara, die Frau, die über Jahrzehnte Postkarten aus aller Welt gesammelt hatte, war gestorben, bevor ihre Enkel sie richtig kennen lernen konnten. Mit diesem Album jedoch ist sie ihren Enkeln näher gekommen. Das Original ist nun im Besitz der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar, wo sie allen Besuchern zugänglich gemacht werden soll. Doch zuvor hat stern TV für sie ein Album mit Replikaten der Original-Karten für sie herstellen lassen – Clara Heidenreichs Leben in Postkarten. 

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