Bis zur Geburt ihrer zweiten Tochter war das Leben von Andrea Dahm nahezu perfekt. Sie ist glücklich verheiratet, ging ihrem Mann Roland gerne bergsteigen; die 37-Jährige Mutter einer Dreijährigen arbeitete erfolgreich als Immobilienmaklerin – und sie war stets kerngesund. Auch die zweite Schwangerschaft verlief problemlos. Allerdings musste das Baby – wie die kleine Annika – per Kaiserschnitt auf die Welt kommen. Ein Routineeingriff: Am 14. März 2016 wurde Charlotte im Klinikum in Landsberg geholt. Alles war gut, ein Tag voller Freude – der jedoch wenige Stunden später in einer Katastrophe endete.
Andrea Dahm sollte nach der Geburt ein zweites Mal operiert werden, weil es zu Nachblutungen gekommen war. Eigentlich kein bedeutender Eingriff, dachte sie sogar selbst: „Ich habe ihnen allen noch eine Kusshand zugeworfen, und habe ihnen gesagt, sie sollen solange auf meine Charlotte aufpassen. Und das war dann das letzte…“
Doch im Operationssaal kam es plötzlich zu schwerwiegen den Komplikationen, vermutlich einer so genannten Fruchtwasser-Embolie. Die 37-Jjährige kollabierte, ihr Herz blieb mehrfach stehen, so dass sie reanimiert werden musste. „Ich habe insgesamt über 50 Blutkonserven gebraucht“, erzählt Andrea Dahm. Roland Dahm mag sich an diese Schocksituation kaum erinnern: „Das war ein Moment, als ich mit dem Kind auf dem Arm im Zimmer stehe und warte, dass sie von der OP zurückkommt. Und dann sagen sie, sie kämpfen um das Leben meiner Frau!“
Eine Fruchtwasser-Embolie ist eine unvorhersehbare Geburtskomplikation. Und sie ist äußerst selten. Aus ungeklärten Gründen gelangt während oder nach der Geburt Fruchtwasser in die Blutbahn der Mutter; statistisch gesehen passiert das nur einmal bei 20.000 Geburten. In seltenen Fällen kann dies zu einer Schocksituation im Körper führen. Die Folge sind eine plötzliche Blutgerinnung, Lungenembolie, Herzversagen und Kreislaufzusammenbruch. Die meisten Frauen sterben daran.
„Ich hatte immer vor Augen: Ich bin daheim mit meinen Kindern“
Auch Andrea Dahm war dem Tod nahe, als sie in die Universitätsklinik München Großhadern gebracht wurde. Um sie zu retten und den Kreislauf zu stabilisieren erhielt sie gefäßverengende Mittel. „Diese Notfallmedikamente machen die Gefäße eng, damit das Blut die wichtigen Organe versorgt, und im Körperkreislauf bleibt“, erklärt Andrea Dahm. „Und das war der Grund, warum mir Hände und Füße abgestorben sind.“
Die zweifache Mutter lag vier Wochen im künstlichen Koma, während sich ihre Organe erholten. Mögliche Gehirnschäden blieben zum Glück aus, doch ihre Gliedmaßen waren aufgrund der mangelnden Durchblutung größtenteils abgestorben. „Die wussten natürlich alle, dass Arme und Beine nicht mehr zu retten waren. Und das war meine große Stärke: dass ich das angenommen habe. Vom ersten Moment an.“
Andrea Dahm wurden Füße und Unterschenkel amputiert, rechts nahm man ihr die Hand und den Unterarm ab, links einen Teil der Hand. Ein Schock – wie sollte die Frau jetzt weiterleben, als Mutter von zwei Töchtern?
Insgesamt verbrachte Andrea Dahm neun Monate im Krankenhaus, genauso lange, wie die Schwangerschaft gedauert hatte. Doch sie kämpfte für ihre Kinder und mit einem unglaublichen Lebenswillen. „Klar, hat man seine schlechten Tage im Krankenhaus, dass man geweint hat. Das muss auch raus. Aber ich hatte immer vor Augen: Ich bin daheim mit meinen Kindern, und ich will wieder auf dem Spielplatz sein.“
Das Leben ist nicht schlecht, nur anders
Knapp fünf Monate später, im August, konnten ihr die ersten Prothesen angepasst werden. Die ersten Schritte mit einem Körpergewicht von nur noch 45 Kilogramm. Und obwohl es schwerfiel, übte die 37-Jährige tapfer weiter, jeden Tag einen Schritt mehr. Auch mit der Prothese an der rechten Hand lernte sie bald umzugehen. Ihr linkes Handgelenk war gerettet worden, allerdings verhinderte ein Keim die Wundheilung – die Einschränkung blieb noch. Doch im Dezember durfte Andrea Dahm das erste Mal wieder nach Hause. „Ich saß da, weil ich nicht mehr hochkam, weil die Kraft gefehlt hat. Dann dachte ich mir: Ich kann doch nicht jede Minute jemanden um Hilfe fragen. Und so habe ich nur eine Woche gebraucht, bis ich es drauf hatte, dass ich alles soweit selber schaffe.“
Mittlerweile – gut ein Jahr nach dem verheerenden Einschnitt in ihr Leben – hat Andrea Dahm riesen Fortschritte gemacht. Doch Autofahren, Terminstress, Treppen – all das geht nicht mehr. Die 37-Jährige muss ihren alten Beruf aufgeben und stattdessen Anträge auf Erwerbsunfähigkeitsrente stellen. Zwar könne sie sich nicht vorstellen, nie wieder zu arbeiten. Doch noch brauche sie mindestens ein Jahr bis dahin, so die zweifache Mutter. Ohnehin wichtiger ist im Moment, dass sie eine Bindung zu ihrer einjährigen Tochter herstellen kann. Die kleine Charlotte fremdelt, da Mutter und Kind in den Monaten im Krankenhaus kaum Kontakt hatten – zumal ohne Hände oder Arme der Mutter. Noch sei sie nicht die Mutter, die Bezugsperson, die ein kleines Kind braucht, sieht Andrea Dahm ein. Doch für eine Mutter sei das sehr hart: „Das ist mit das Schlimmste: wenn das Kind nicht lacht, sondern weint, wenn man als Mama zu ihr kommt.“
Aber Andrea Dahm kämpft sich tapfer voran, sie will ihr altes Leben zurück. Dafür übt sie eisern: Lauftraining, Geschicklichkeit, Spielen mit den Mädchen. Sie möchte wieder ganz Mutter sein, Ehefrau und Freundin. Eine Ergotherapeutin kommt regelmäßig zu ihr nach Hause und zeigt der Mutter, wie sie die Handgriffe im Haushalt leichter bewältigen kann. Demnächst soll sie nochmals andere Prothesen bekommen. Das Besondere: Sie haben ein Mikrochip-gesteuertes Fußgelenk, das erkennt, ob die Trägerin bergab oder bergauf geht. Die Prothesen kosten allerdings 25.000 Euro pro Fuß – noch sind sie nicht genehmigt.
Zum Wieder-normal-sein gehört für sie auch, dass die Optik stimmt. Andrea Dahm trägt Ring und Armband an der Handprothese und hat sich die Fingernägel lackiert. Mit ein paar Hilfsmitteln kann sie sich selbst schminken. Und mit den neuen Prothesen könnte sie sogar wieder kleine Absätze tragen.
Andrea Dahms Leben hat sich für immer verändert. Doch für sie ist es nicht schlecht, sagt sie. Nur anders.
INFO Fruchtwasserembolie