Ein Jahr, zwei Welten: Das Aufstiegsmärchen von Osnabrück

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Als der VfL Osnabrück am Sonntag die Trophäe des Drittliga-Meisters überreicht bekam, wurden noch einmal Erinnerungen wach.

1:4 hatten die Veilchen im für sie bedeutungslosen letzten Spiel gegen die SpVgg Unterhaching verloren – genau wie am letzten Spieltag der vorherigen Saison.

Damals allerdings lag der Verein am Boden. Nicht finanziell, so wie in den vergangenen Jahren immer mal wieder. Auch nicht emotional, wie nach den verlorenen Relegationsspielen 2011 und 2013. Im Mai 2018 waren die Veilchen sportlich am Tiefpunkt, die Pleite in Unterhaching war das passende Ende einer Drittliga-Saison zum Vergessen.

„Da sind wir gnadenlos auseinandergeschraubt worden“, erinnert sich VfL-Trainer Daniel Thioune bei SPORT1 noch heute mit Schrecken – und einer Portion Galgenhumor: „Da durfte ja jeder gegen uns mal ein Tor schießen – ob es der Busfahrer war oder der Zeugwart, der verabschiedet wurde. So hat es sich zumindest angefühlt.“

Osnabrücks Märchen führt in 2. Bundesliga

Und doch sieht Thioune ausgerechnet diesen Tag als entscheidendes Kapitel eines Fußball-Märchens, das den VfL Osnabrück nicht einmal ein Jahr später zurück in die 2. Bundesliga geführt hat.

„Die Fans sind durch eine furchtbare Saison gegangen. Und trotzdem gab es nach diesem Spiel einen Augenblick, als wir am Zaun waren, in dem man gemerkt hat, dass sie uns das Vertrauen schenken“, erklärt der 44-Jährige.

Ein Vertrauen, das die Mannschaft vom ersten Spieltag der neuen Saison an rechtfertigte. Teilweise dank neuer Spieler, teilweise dank anderer Voraussetzungen.

„Wenn man sich die vorherige Saison einmal nüchtern anschaut, dann sind zu Saisonbeginn fünf Stammspieler ausgefallen oder verkauft worden, eine halbe erste Elf ist weggebrochen“, erinnert sich der langjährige Osnabrück-Profi Alexander Dercho im Gespräch mit SPORT1.

Dercho: Selbst Guardiola hätte nichts geholfen

Der Verein habe die Transfererlöse benötigt, der damalige Trainer Joe Enochs sei eiskalt erwischt worden: „Bei dieser ganzen Negativserie, die ihm dann teilweise in die Schuhe geschoben wurde – da hätten wir Pep Guardiola als Trainer haben können: Wenn dir eine halbe Stammelf wegfällt in der 3. Liga, dann kannst du das nicht kompensieren.“

Im Oktober 2017 musste Enochs gehen – und Thioune übernahm, zunächst mit mäßigem Erfolg. Dass der VfL nicht abstieg, lag weniger am neuen Trainer als an der schwachen Konkurrenz. Vor dem Start der neuen Saison aber hauchte der ehemalige Stürmer dem Team neues Leben ein, indem er das Ziel ausgab, 114 Punkte holen zu wollen – also jedes Spiel zu gewinnen.

„Wenn du aus so einem Jahr wie dem letzten kommst, dann denkst du erst mal: ‚Was erzählt der denn da!? Wie sollen wir jedes Spiel gewinnen?'“, erinnert sich Dercho lachend: „Aber er hat der Mannschaft von Anfang an eine Siegermentalität eingeimpft – und wie man sieht, hat das Früchte getragen.“

Bereits am fünftletzten Spieltag machten die Osnabrücker den Aufstieg perfekt, eine Woche später die Meisterschaft. Gerade einmal drei Niederlagen hatte der VfL bis dahin kassiert – und so noch mehr Fans hinter sich gebracht. In der Hinrunde vor allem mit Einsatz und Kampf, nach der Winterpause dann auch mit spielerischer Dominanz.

Thioune: „Mythos von der Bremer Brücke zurückgekehrt“

Zu Beginn der Saison seien „nur noch die im Stadion gewesen, die den Verein über alles lieben“, sagt Thioune: „Aber dann ist ein Flow entstanden, es wurden immer mehr Leute angefixt, es wurde immer lauter im Stadion. Wir sind so nach vorne gepeitscht worden, dass dieser Mythos von der Bremer Brücke irgendwann zurückgekehrt ist.“

Die Zuschauerzahlen kletterten von rund 7600 im ersten Heimspiel gegen Würzburg auf regelmäßig über 15.000 in den letzten Wochen. Die Fußballstadt Osnabrück erwachte aus dem Dornröschen-Schlaf.

„Man muss ja ehrlicherweise sagen: Osnabrück hat nicht so viel zu bieten außer dem VfL und einem ganz schönen Theater“, gesteht Dercho, der nach fast zehn Jahren in Niedersachsen mittlerweile heimisch geworden ist: „Aber es gibt natürlich diese positiv bekloppte Fanszene, es ist wirklich eine fußballverrückte Stadt.“

Crowdfunding der Fans rettete VfL Osnabrück

Die Liebe der Osnabrücker zu ihrem VfL geht sogar so weit, dass sie den Verein einst vor dem Ruin bewahrten. 2014 war die Drittliga-Lizenz akut in Gefahr, erst eine bis dahin einmalige Crowdfunding-Aktion der Fans sorgte für Entspannung. „Damals haben, glaube ich, jede Oma und jeder Opa noch mal das Sparschwein geschlachtet und die letzten paar Euro dem Verein gegeben. Das ist dieses positiv Verrückte in dieser Fußballstadt“, schwärmt Dercho.

Der mittlerweile 32-Jährige hat in seiner Zeit bei den Veilchen schon so einiges erlebt: „verschiedene Trainer, unterschiedliche Präsidien, Steueraffären“ – es sei immer drunter und drüber gegangen.

„Es kam sogar mal vor, dass die Behörden bei mir die Wohnungstüre aufgebrochen haben, weil ich nicht zuhause war. Die sind damals bei mehreren Spielern reingestürmt, um irgendetwas zu finden, was es nicht gab“, erinnert sich Dercho: „Es gibt also schon einige lustige Anekdoten. Langweilig wurde es hier wirklich nie.“

Dass der Verein endlich wieder sportlich für Furore sorgt, ist für den Linksverteidiger aber sicherlich die schönste Geschichte. Für Dercho ist es nach 2010 der zweite Zweitliga-Aufstieg mit dem VfL – genauso übrigens wie für Thioune, dem dieses Kunststück im Jahr 2000 noch als Spieler gelang. Und doch bezeichnen beide den Aufstieg 2019 als etwas Besonderes.

Thioune will 2. Bundesliga bereichern

Als „Genugtuung für die geschundene Seele“ des gesamten Umfelds empfindet Dercho die Rückkehr in die Zweite Liga, und Thioune betont: „Für mich als Osnabrücker ist es ein großer Augenblick gewesen, nicht nur aufgestiegen zu sein, sondern die Liga als Meister zu verlassen. So gerne ich auf den Betzenberg gefahren bin: Ich fahre noch ein bisschen lieber zwei Mal nach Hamburg.“

Und sein Ziel für die kommende Zweitliga-Saison? „Wir wollen die Liga nicht nur halten, sondern wir wollen sie bereichern“, kündigt Thioune an. Er wolle auch eine Liga höher nicht anfangen, sich „an kleinen Zielen“ zu orientieren: „Ich will über den VfL Osnabrück hören: ‚Schön, dass ihr wieder da seid, und es macht Spaß, euch zuzusehen.'“

Im besten Fall sammle sein Team damit so viele Punkte ein, „dass wir die Liga ein Jahr später vielleicht noch mal bereichern“.

Es wäre nach Jahren des Leidens die passende Fortsetzung des Osnabrücker Fußball-Märchens.

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