CDs des Dschihadisten Deso Dogg, die Flagge des sogenannten Islamischen Staates – es sind Gegenstände wie diese, die Stefan Schürmann alarmieren. Der 43-Jährige ist Strukturbeobachter in der JVA Frankfurt und soll als Spezialist erkennen, ob sich Gefangene radikalisieren. Das Land Hessen setzt seit 2016 gezielt Experten wie Stefan Schürmann ein. Denn: Immer häufiger müssen Ermittler feststellen, dass sich spätere Attentäter im Gefängnis unter dem Einfluss von Mithäftlingen noch stärker radikalisiert hatten. Einige der Attentäter von Paris etwa, die sich im Gefängnis kennengelernt hatten, oder Anis Amri, der in Haft immer extremistischere Ansichten entwickelt hatte, wie man jetzt weiß. Viele der 300 in Deutschland inhaftierten mutmaßlichen Islamisten haben Terroristen wie Amri zum Vorbild. Schürmann untersucht deshalb Gefängniszellen und Gepäck nach Hinweisen auf eine mögliche Radikalisierung, beobachtet Freundschaften unter Häftlingen und greift wenn nötig ein. Letztlich soll verhindert werden, dass ehemalige Häftlinge nach ihrer Entlassung schwere Attentate ausüben oder zu Dschihadisten werden.
Indizien für Radikalisierer – und solche, die beeinflussbar sind
stern TV hat den Strukturbeobachter einen Tag lang im Gefängnis begleitet. Zwei neue Häftlinge sind an diesem Tag aufgenommen worden, Stefan Schürmann soll herausfinden, ob sie Gedankengut haben, das für ihre Mithäftlinge gefährlich sein könnte. Wenn jemand einen Gebetsteppich mitbringt, dann sei das nicht unüblich und im Rahmen der Religionsausübung zugelassen. Ein Koran von der berüchtigten „Lies-Stiftung“ sei schon eher ein Indiz, so der Experte. Ebenso wie eine CD von Deso Dogg alias Denis Cuspert. „Spätestens jetzt denke ich, es könnte sich um eine radikalisierte Person handeln. Weil sich der ehemalige Rapper Deso Dogg definitiv dem Dschihad angeschlossen hat und jetzt Propaganda für den sogenannten IS macht“, sagt Stefan Schürmann.
Der Berliner Denis Cuspert hatte ebenfalls im Gefängnis begonnen, seinen Glauben extremer zu interpretieren. Sechs Jahre liegt das zurück. Nach der Haft stieg Denis Cuspert zur Propagandafigur auf, reiste wenig später nach Syrien und lockt seitdem von dort junge Menschen in den Dschihad. Anfang dieses Jahres kam die Meldung, dass Cuspert bei Gefechten in Syrien ums Leben gekommen sein soll. Diejenigen, die den Kampf überlebt haben, kommen mittlerweile zurück nach Deutschland. Viele der Rückkehrer wandern ins Gefängnis, unter anderem in die JVA Frankfurt.
„Wenn jemand kommt und Antworten auf alle Probleme hat, dann geht das ganz schnell.“
Spezialist Stefan Schürmann beobachtet die Neuzugänge genau: Beim Hofgang der Gefangenen etwa sieht er genau hin: Wer kleidet sich plötzlich anders, wer verhält sich auffällig, welcher Mann unterhält sich mit wem? „Die ersten Tage sind meines Erachtens nach sehr wichtig, weil die Leute noch relativ orientierungslos in der JVA sind und sich Personen zuwenden, die entweder aus dem gleichen Kulturkreis kommen, die gleiche Sprache sprechen und anderes.“ Wenn sich eine Verbindung ergibt, die problematisch werden könnte, würde man Personen innerhalb der Anstalt auch verlegen, sagt Schürmann. Denn wenn die Falschen aneinander geraten, könnten selbst Kleinkriminelle zu radikalen Islamisten werden.
So war es bei dem Deutsch-Ganaer Harry S., der 2015 nach Syrien reiste, um sich dem IS anzuschließen und ebenfalls von dort weitere Kämpfer anzuwerben. Als stern TV ihn nach seiner Rückkehr 2016 zu einem Interview im Gefängnis traf, erzählte er von seiner Radikalisierung während einer vorangegangenen Haft. Damals saß er wegen Raubes in einer JVA in Bremen – und traf auf einen verurteilten Islamisten. Als er in die JVA in Bremen kam, sei er in ein Loch gefallen. Die Lücke habe ein Extremist gefüllt, auf den er dort traf, so Harry S.: „Er hat mir viel Zuneigung geschenkt im Gefängnis und hat auf mich eingeredet, dass der Islam, den ich bisher auslebte, nicht der authentische Islam ist. Und so bin ich Stück für Stück, in den Salafismus reingerutscht.“ In Syrien sei er nicht der einzige gewesen, der auf diese Weise radikalisiert worden sei. „Weil die Leute im Gefängnis zurück zur Normalität finden wollen. Und wenn dann jemand kommt und Antworten auf alle Probleme hat, dann geht das ganz schnell.“ Harry S. sagt, er sei geläutert und bereue die Zeit beim so genannten Islamischen Staat. Er wird nun weitere drei Jahre im Gefängnis bleiben.
Einfluss von außerhalb auf Gefangene nicht unterschätzen
In der JVA Frankfurt hält ein Imam und muslimischer Seelsorger im Andachtsraum Gebete für muslimische Gefangene. Mustafa Cimşit soll dafür sorgen, dass die Häftlinge nicht an die „falschen“ Prediger geraten. „Wenn ich denke, jemand hat Gesprächsbedarf oder Gedankengut, das Unheil stiftet, das gefährlich ist für unsere Gesellschaft, dann wird das thematisiert“, so der Imam.
Nicht nur die Kontakte innerhalb der JVA, sondern auch die zur Außenwelt spielen eine Rolle, weiß Stefan Schürmann. Manche Menschenfänger agieren auch von draußen in die Gefängnisse hinein. Beispielsweise Bernhard Falk, ein ehemaliger verurteilter Links-Terrorist, der heute als radikaler Salafist Spenden für seine „Islamische Gegangenenhilfe“ sammelt – für muslimische Straftäter hinter Gittern.
Was in den kommenden Jahren auf Deutschlands Justizvollzugsanstalten zukommt, kann man nur erahnen. Zurzeit steht in Celle der Hassprediger „Abu Walaa“ vor Gericht, ein gefährlicher Scharfmacher. Fast 300 weitere mutmaßliche Islamisten sitzen derzeit in deutschen Gefängnissen, die andere Häftlinge radikalisieren könnten. Strukturbeobachter Stefan Schürmann hält seine Vorarbeit dennoch für unerlässlich. Denn selbst, wenn es die Präventionsarbeit in Deutschlands Knästen nicht immer schafft, radikalisierte Islamisten zu erreichen oder umzudrehen, „wäre unser Ziel zumindest, die Öffentlichkeit insofern zu schützen, dass wir die Behörden informieren können, wenn diese gewissen Personen aus dem Gefängnis kommen und beobachtet werden sollten.“ Im Fall Anis Amri ist dieser Plan leider nicht aufgegangen.
Prävention gegen Extremismus und Radikalisierung