Mehr essen, als man eigentlich will – das kennen viele Frauen. Und auch Männer. Doch wenn das In-sich-hinein-stopfen krankhafte Ausmaße annimmt, ist es eine Essstörung. Man tut seinem Körper nichts Gutes, sondern versehrt ihn. Hinzu kommen Übergewicht und grenzenlose Scham. Jana Crämer kennt diese Gefühle sehr genau. Die 35-Jährige leidet seit Jahren unter der Essstörung, die sich Binge Eating nennt. Zwanghafte, wiederkehrende und unkontrollierte Essanfälle – bis zum Erbrechen. Oder auch nicht. Anders als bei Bulimie, der so genannten Ess-Brech-Sucht, verbleiben die unglaublichen Kalorienmengen meist im Körper. Die Betroffenen schämen sich, essen heimlich. Und sie nehmen immer weiter zu.
„Ich habe mich mit Essen betäubt.“
Hi, ich bin Jana Crämer und ich bin essgestört. So stellt sie sich in ihrem Blog vor. Die offene und ehrliche Art, mit der Jana über ihr Leiden schreibt, erreichte viele Leserinnen und Leser, die diese Probleme kennen: Jana Crämer versuchte mit dem anfallsartigen, maßlosen Essen eine Leere in ihrem Inneren zu füllen. Immer wieder, ohne Erfolg. Die Ursache vermutet sie in ihrer problematischen Kindheit. Ihr Vater sei starker Alkoholiker gewesen. „Die Maßlosigkeit, die er beim Trinken hatte, habe ich beim Essen entwickelt. Er hat sich mit Alkohol betäubt, ich mit Essen.“ Solange sie sich erinnern kann, habe sie ein Problem mit dem Essen gehabt. Schon in der Schule sei sie wegen ihres Übergewichts gemobbt worden.
Credit_BenWolf_jana_056„Die Waage zeigte ‚Error‘.“
Immer wieder führte Jana Crämer der Weg in den Supermarkt, wo sie so viel kaufte, wie sie sich gerade leisten konnte. Eis, Pizza, Chips und Schokolade… „Während des Essens habe ich dann gedacht: Jetzt noch einmal richtig und danach nie wieder. Bis ich dann das nächste Mal umgeben von leeren Kartons auf meinem Bett saß und wieder gedacht habe: Beim nächsten Mal ist es das letzte Mal. Nie wieder.“
2014 erreicht sie ihr Maximalgewicht: Die junge Frau wog mehr als 170 Kilogramm bei einer Größe von 1,68 Metern. Kleidergröße: 62. „Die Waage hat immer weiter hochgezählt und dann stand da nur noch ‚Error“, erzählt die 35-Jährige. „Da war bei in meinem Kopf auch nur noch ‚Error‘. Ich habe gedacht: Jetzt bist du nicht mehr normal.“
stern TV-Clip Unvergleichlich für JanaDie Zeit, als sie Managerin der ehemaligen Band „Luxuslärm“ war, konnte Jana kaum genießen. Zu sehr schämte sie sich für sich selbst. Über ihre Sucht sprechen? Das traute sie sich über all die Jahre nicht – nicht einmal mit ihrem besten Freund David. Es sollte einfach niemand merken, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Dann kam der Wendepunkt in ihrem Leben: Sie schrieb ein Buch-Manuskript über ihre Essstörung Binge Eating und gab es David. Der erste Mensch, der jedes Detail erfuhr, wandte sich nicht von ihr ab. Er hielt zu ihr und half ihr eine gesündere Selbstwahrnehmung anzunehmen. Ihre Fressattacken kamen seltener und zum ersten Mal in ihrem Leben verlor Jana wieder an Gewicht. David, der ehemals der Band Luxuslärm angehörte und jetzt Musiker unter dem Namen Batomae ist, schrieb für Jana auch einen Song – für seine beste Freundin, die in seinen Augen unvergleichlich ist.
FAQ Infos zu Binge Eating“Auf den Fotos sehe ich nach wie vor eine Fettmasse“
Vor zwei Jahren zog Jana nach Berlin, um einen Schlussstrich unter die schlimmste Zeit ihres Lebens zu ziehen. Sie schaffte es bis heute mehr als 80 Kilogramm abzunehmen, teilt nun ihre Erfahrungen offen mit Lesern ihres Blogs. Sie will über Binge Eating aufklären und zeigen, wie die Fressattacken einem Menschen den Boden unter den Füßen wegreißen können. Und auch, wie ein Körper aussieht, den man jahrelang gequält hat. Dazu gehörte, die Nacktaufnahmen von sich selbst ins Netz zu stellen – auch, wenn es ihr nicht leichtfiel. Der Moment der Aufnahmen sei zwar ein sehr schöner gewesen, aber, so die 35-Jährige, „das Objekt darauf ist für mich nach wie vor ziemlich schrecklich. Ich sehe Fett, ich sehe Risse in der Haut, ich sehe eine Fettmasse.“
Janas Schwierigkeiten mit sich selbst führten dazu, dass sie bis heute keine Liebesbeziehung hatte. Sie habe noch nie Händchen gehalten oder jemanden geküsst. Und natürlich würde sie sich danach sehnen, wäre gerne „normal“, sagt sie. Noch ist ihr eigenes Leben noch weit von der Normalität entfernt. Vor drei Monaten hatte Jana Crämer die letzte Fressattacke. Deshalb will sie neben der Hilfe einer Ernährungsexpertin eine Psychotherapie in Anspruch nehmen – und sich auch ihre überschüssigen Hautlappen entfernen lassen. „Ich wünsche mir, gesund zu werden. Ich möchte mit mir im Reinen sein. Ich möchte meinen Körper so pflegen, wie er es verdient hat – und ihn so lieb haben, wie er es verdient hat.“
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