Wenn wir uns Bilder aus unserer Vergangenheit ansehen, wissen wir alle meist noch, wann und wo diese Aufnahmen gemacht wurden. Nicht so Max Rinneberg. Denn: Der 26-Jährige weiß nicht mehr, wer er einmal war. Seine komplette Vergangenheit – ausgelöscht!
Max Rinneberg hat sein Gedächtnis verloren. Alle alten Erinnerungen, die ganzen ersten 17 Jahre seines Lebens, sind einfach weg. Wahrscheinlich unwiederbringlich: Max als Kind beim Spielen, Max im Urlaub mit seinen Eltern oder am Weihnachtsabend mit seiner Schwester, dass er Zelten gegangen war, dass er eine Zahnspange getragen hatte – oder dass er einmal Langstreckenläufer und auch Fan vom FC Bayern-München war. Er weiß von all dem nichts mehr. „Es ist halt nur ein Bild. Durch die Geschichte dazu wird es ein wenig lebendiger. Aber es fehlt die Bindung“, sagt Max, der selbst beim Blick in den Spiegel einen Fremden sieht. „Ich versuche etwas in dem Gesicht zu erkennen. Aber mich blicken da eher leere Augen an.“
„Als ich die fremde Frau fragte, wer sie sei, sagte sie: ‚Ich bin deine Mutter‘.“
Es war eine kleine Unachtsamkeit, die für Max Rinneberg alles änderte. Es passierte auf dem Kirchplatz, im unterfränkischen Kleinostheim. Der damals 17-Jährige war mit Freunden auf einer Party, als er heimging, stolperte er über ein paar Stufen auf dem Platz und fiel hin. Seine Schwester Christina fand ihn 20 Minuten später bewusstlos dort liegen. Als sie ihm aufhalf, wusste er schon nicht mehr, wer das Mädchen war: „Er hat mich angeschrien, was ich denn mache, was er hier mache, wieso sein Kopf und Knie weh tue, wer ich bin, was ich von ihm wolle… In dem Moment war klar, dass da irgendwas nicht stimmt“, erinnert Christina sich.
Als Max Rinneberg am nächsten Tag in der Klinik zu sich kam, war sein Leben futsch. Er hatte ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, dem 17-Jährigen fehlten jegliche Erinnerungen. „Es ging die Tür auf und eine Frau und ein Mann kamen herein. Sie stellten sich an mein Bett und die Frau nahm meine Hand. Als ich fragte, wer sie denn sei, bekam ich die Antwort: ‚Ich bin deine Mutter‘.“
Die Ärzte diagnostizierten eine so genannte „retrograde Amnesie“ im Zuge seines Schädel-Hirn-Traumas, verursacht durch ein extremes Stresserlebnis des Gehirns.
KASTEN Hintergründe zur Amnesie von Max Rinneberg
Irgendwo einfach ein neues Leben beginnen
Max‘ Unfall liegt knapp neun Jahre zurück. Damals versuchte der einst begeisterte Sportler und zielstrebige Steuerfachgehilfe an sein altes Leben anzuknüpfen. Doch was er vorher tat – sein alter Job, seine Hobbys – erschien ihm plötzlich alles öde. Auch alle Menschen in seinem früheren Leben waren für ihn wildfremd. Seine Schwester, seine Eltern, Freunde und Kollegen – alle hofften darauf, dass Max wieder der Alte würde. Auch er. Doch das trat nicht mehr ein. Max Rinneberg hatte das Gefühl, das Leben eines anderen zu führen. Die Folge: Er verlor den Halt, fühlte sich identitätslos und zog sich immer weiter zurück. Er haderte damit, nicht mehr der alte Max zu sein – der, den seine Mutter kennt und vermisst. „Sie sieht mich an, aber sie sieht noch den alten Max. Sie hat ja die ganzen Erinnerungen von damals“, so Max Rinnberg. „Dann sagt sie, dass sie manchmal gerne wieder mit dem alten Max sprechen würde. Aber das kann ich ihr nicht geben; das tut mir auch weh.“
Und so beschloss Max Rinneberg, irgendwo einfach ein neues Leben anzufangen: In Osttirol arbeitet er jetzt als Barkeeper in einem Golf-Hotel. Denn Max ist jetzt ein ganz anderer, ein Neuer: Nicht nur, dass er inzwischen eingefleischter Dortmund-Fan ist und den FC Bayern verabscheut. Der ehemalige Marathonläufer spielt heute lieber Golf, trägt Fliegen und raucht am liebsten kubanische Zigarren. Seinen Freundeskreis hat er komplett gewechselt. Der Preis für das neue Leben: ein 15 Quadratmeter großes Zimmer mit integriertem Bad. Mehr brauche er aber auch nicht, sagt Max.
INFO Buch Max RinnebergNeun Jahre nach seinem lebensveränderden Sturz hat der 26-Jährige mittlerweile sich und eine neue Identität gefunden. Fotos aus der alten Zeit meidet er jetzt bewusst. Bis heute sind seine Erinnerungen nicht zurückgekommen – laut Ärzten und Hirnforschungsexperten sind die Chancen dafür auch eher gering. Max sieht das ohnehin mit gemischten Gefühlen: „Ohne die Erinnerungen bin ich heute, wer ich bin. Selbst wenn ich morgen aufwachen würde und wüsste wieder alles – ich weiß nicht, wie ich reagieren würde. Weil es ja doch komplett unterschiedliche Menschen sind. Gerade keine Erinnerungen zu haben, hat mich so geprägt, wie ich heute bin.“