Alleine gelassen und überfordert: Wie Kinder unter der psychischen Erkrankung ihrer Eltern leiden

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Kimberly ist acht Jahre alt und zählt zu den 3,8 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland, die von einer psychischen Erkrankung ihrer Eltern (mit)betroffen sind. Für sie ist es ein schweres Los, gerade jüngere Kinder können die Probleme und Reaktionen ihrer Eltern nicht deuten. In der Zeit, als ihre Mutter ihre Angststörung intensiv erlebte, war sie noch im Kindergartenalter. „Mama, du darfst nicht gehen, ich muss auf dich aufpassen“, habe die damals Dreijährige schon im Kindergarten gesagt.

Ihre Mutter Natascha verließ jahrelang kaum noch die Wohnung. Sie litt unter Herzrasen, Schwindel, Engegefühl. Lange Zeit wusste sie selbst nicht, was ihr fehlt. Natascha ging von Arzt zu Arzt, bis sie 2010 die Diagnose erhielt. Es folgten Klinikaufenthalte und Therapien. Kimberly musste das damals alleine verarbeiten. Dabei hatte sie so viele Fragen. Aber kann man einem Kind eine psychische Krankheit erklären? „Ja“, sagt Andrea Rothenburg, die sich mit ihrem Verein Kindern psychisch erkrankter Eltern widmet. „Ihre offenen Fragen belasten sie mehr, als wenn ihnen die Krankheit kindgerecht näher gebracht und erklärt wird.“ Die kindliche Fantasie spiele eine große Rolle dabei, da sich die Kinder ihre eigenen Erklärungen suchen und dadurch Ängste entstehen. Etwa „Mama ist unheilbar krank“, oder „Mama ist ‚verrückt‘, wir werden ihr weggenommen und in eine andere Familie gegeben“. Viele Kinder beziehen die Situation auch auf ihr eigenes Verhalten: „Ich bin nicht gut genug, ich bin daran schuld, dass Mama so traurig ist.“ 

„Wir haben uns in panischer Angst versteckt“

Auch die damals zehnjährige Kristina konnte nicht einordnen, was mit ihrer Mutter los ist. Ihre Mutter litt an Wahnvorstellungen, und warf in der Wohnung wie wild mit Gegenständen um sich. „Ich dachte, ich muss irgendwas tun, bevor meine Schwester und ich etwas abkriegen“, erzählt Kristina rückblickend. „Wir haben uns in panischer Angst in der Wohnung versteckt. Erst als unser Vater sagte ‚Sie ist weg‘, sind wir wieder rausgekommen.“ Die Kinder erlebten damals den ersten von vier Polizeieinsätzen bei ihnen zu Hause.

Kristinas Mutter ist seit neun Jahren schizophren, nimmt ihre Krankheit aber bis heute nicht an. „Sie hat zwei Sichtweisen“, erzählt Kristina. „Eine normale und eine verworrene. Die hängen aber so stark miteinander zusammen, das ist in ihrer Psyche mittlerweile so stark verankert, dass man schon gar nicht mehr erkennen kann, wo der normale Mensch aufhört und wo die Krankheit anfängt.“
Als Kristinas Mutter 2008 einen Nervenzusammenbruch erlitt, stellten die Ärzte eine „schizophrene Psychose“ fest. Doch als sie aus der Klinik entlassen wurde, nahm sie ihre Medikamente nicht weiter. Die Wahnvorstellungen kamen und gingen – und sie prägten den Familienalltag. Oft durften Kristina und ihre Schwester ihre Freunde nicht mit nach Hause bringen, weil sie „böse“ sind.

Kristina ist jetzt 14 Jahre alt. Nach langem Hoffen auf Besserung hatte ihr Vater das alleinige Sorgerecht für die Kinder beantragt und einen Schlussstrich gezogen. Doch den Kindern hängt das Erlebte noch an.

„Niemand hat drauf geachtet, wie es mir damit geht“

Die Belastung ist für Kinder in solchen Lebenssituationen enorm. So nehmen Elternteile wie Kristinas Mutter ihre Kinder oder Menschen aus dem familiären Umfeld in ihrem Wahn häufig als „Feind“ wahr – und reagieren entsprechend auf sie. Mütter mit Angststörungen neigen dazu, ihre Kinder im Übermaß zu schützen und sie nicht mehr aus dem Haus zu lassen. Bei Depressiven besteht oft das Risiko, das eigene Kind gar nicht mehr wahrzunehmen und sich in der eigenen Krankheit zu vergraben.

So ist es der heute 22-jährigen Anna-Lina ergangen. Ihre behütete, unbeschwerten und glückliche Kindheit wandelte sich zu einer Tragödie: Als Anna-Lina elf Jahre alt war, starb ihre Mutter an einer Lungenembolie. Danach veränderte sich für das Mädchen alles. Anna-Lina war plötzlich auf sich alleine gestellt, denn auch ihr Vater konnte sich nicht um seine Tochter kümmern: Er wurde in dieser Zeit manisch-depressiv, konnte den Familienalltag für Anna-Lina und ihren Bruder nicht bewältigen. „Irgendwann hat ihn die Krankheit vereinnahmt und sie wurde Alibi für jegliches Verhalten“, erzählt die 22-Jährige. Der Vater verlor damals regelrecht den Kontakt zu den Kindern. Das Mädchen erlebte damals mehrere Selbstmordversuche ihres Vaters mit. An manchen Tagen habe sie sich kaum getraut, in die Schule zu gehen: Sie habe einen großen Teil der Verantwortung übernommen, für ihren Vater, für sich und für ihren Bruder. „Ich habe meinen Vater in Watte gepackt, eigentlich den Platz der Ehefrau eingenommen, mich nur gekümmert. Niemand hat drauf geachtet, wie es mir damit geht.“

Eine solche Rollenumkehrung sei nicht selten, sagt Andrea Rothenburg. „Die Kinder kümmern sich um den erkrankten Elternteil oder die anderen Geschwister, sie funktionieren und stecken die eigenen Bedürfnisse zurück. Sie verlieren ihre Leichtigkeit und werden zu ‚kleinen Erwachsenen‘.“ Nicht ohne Folgen: Viele betroffene Kinder würden verhaltensauffällig oder entwickelten gar eigene psychische Auffälligkeiten.
Als Tochter eines Psychiaters hatte Andrea Rothenburg schon als Jugendliche den Klinikalltag hautnah miterlebt – und auch, wie Kinder unter der Krankheit ihrer Eltern leiden. Doch bis Vater oder Mutter sich behandeln lassen, hätten die Kinder meist schon einiges erlebt: „Die betroffenen Elternteile sind dabei in ihrer eigenen Krankheit gefangen und mit den Kindern wird kaum über die Krankheit gesprochen, da die Eltern sie nicht zusätzlich belasten wollen. Mit ihrem Verein Psychiatrie in Bewegung möchte sie das ändern und besucht Kinder von psychisch erkrankten Eltern zu Hause. Auch Natascha: Kimberlys Mutter Natascha war sich lange unsicher, wie viel sie ihrer achtjährigen Tochter über ihre Krankheit erzählen soll. Inzwischen hat sie verstanden: „Es ist wichtig, ihr zu vermitteln, dass ich an mir arbeite und dass ich gut aufgehoben bin. Damit sie merkt, dass sich jemand um mich kümmert – und sie sich nicht um mich kümmern muss.“ 

KASTEN Anlaufstellen für betroffene Familien und Kinder

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