„Sechs, sieben Mal“, antwortet der 15-jährige Görkan auf die Frage, wie oft er bisher mit der Polizei zu tun hatte. Seiner Einschätzung nach „nicht so oft“. Doch für ihn kommt es jetzt schlimmer. Görkan ist im Gefängnis. Er muss sich vom Justizbeamten wie ein Schwerverbrecher behandeln lassen. Zu seinem Glück nur auf Probe. Görkan und die anderen Jungs, die an diesem Tag erstmals ein Gefängnis betreten, sollen einen Eindruck vom Knastalltag bekommen. Die Erfahrung soll ihnen klarmachen, dass sie es vermeiden sollten, hier – in der Justizvollzugsanstalt Hannover – zu landen.
„Habe mich selbst schachmatt gesetzt“
In der JVA Hannover sitzen 530 Gefangene im geschlossenen Vollzug. Benjamin Targan hat bis vor wenigen Wochen dort eingesessen. Der 38-Jährige hat insgesamt schon sieben Jahre seines Lebens hinter Gittern verbracht. Inzwischen ist er im offenen Vollzug. „Du sitzt plötzlich vor einer Wand und musst alle Pläne verwerfen, die du hattest“, sagt Targan. „Dann sagst du dir: Ach, kannste verwerfen – ist alles für’n Arsch. Weil das alles nicht mehr passieren wird.“
Kasten Verein Gefangenen helfenMit seinen Erfahrungen will er Jugendlichen wie Görkan jetzt helfen. Er ist Teil des Projekts „Gefangene helfen Jugendlichen“. Benjamin Targan brach das Wirtschaftsgymnasium, auf das er einst ging, vorzeitig ab. Er machte eine Ausbildung als Außenhandelskaufmann, leistete dann Zivildienst. Doch Benjamin Targan träumte vom großen Geld. Er verspekulierte sich an der Börse und rutschte in eine Negativ-Spirale. Die Verluste versuchte er auszugleichen, mit Raub, Bankenbetrug, gefälschten Ausweispapieren. „Ich hatte einen ganzen Haufen Schulden. Und dann habe ich mich eigentlich selbst schachmatt gesetzt – also selbst den Zug gemacht, nach dem ich an der Wand stand und nichts mehr machen konnte“, erzählt der 38-Jährige.
Benjamin Targan wurde zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Nach der Entlassung arbeitete er als Türsteher und lernte dabei die falschen Leute kennen, die ihn wieder mit „leicht gemachtem Geld“ köderten, sagt er. Targan wurde wieder erwischt und wegen Drogenhandels zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. In dem Projekt will der Häftling den Jugendlichen klarmachen, wie schnell man abrutschen kann und welche Konsequenzen auch kleine Straftaten nach sich ziehen können. Die Jungen, die den Knastalltag in der JVA Hannover kennenlernen sollen, sind allesamt gefährdet. Benjamin Targan erklärt: „Die Jugendlichen sehen uns nicht als Lehrer, Therapeut oder Elternteil, die ihnen etwas vorschreiben wollen, sondern als jemand, der sagt: Wir wollen euch helfen, dass ihr nicht die gleichen Fehler macht, wie wir.“
Die JVA Hannover beteiligt sich seit 2015 an dem Projekt „Gefangene helfen Jugendlichen“. Der Leiter Matthias Bormann sieht darin ganz klar auch Vorteile für die Häftlinge: „Sich auseinanderzusetzen mit der Tat bedeutet auch, im Nachgang Verantwortung für etwas zu übernehmen, was sie bereuen. Also die Reflektion der eigenen Tat ist die Chance für den Gefangenen, sich wieder zu resozialisieren.“
„Das Gefühl ist scheiße, da drin zu sein“
Taschen leeren, Gefängniskleidung, Körperkontrolle – die Jugendlichen gehen in der JVA denselben Weg, den frisch Inhaftierte gehen müssen. Wie die Häftlinge machen sie keinen Schritt ohne Aufsicht. Und sie werden einzeln in einen Haftraum eingesperrt. Acht Quadratmeter, vergitterte Fenster, ständige Beobachtung. Aus rechtlichen Gründen müssen die Jungen diese Erfahrung nur einige Minuten machen – im Gegensatz zu den Wochen, Monaten oder Jahren, die ihnen drohen könnten. „Das Gefühl ist scheiße, da drin zu sein“, sagt der 15-jährige Sahid. „Ich habe die Matratze angeguckt, die war übertrieben dünn und ich frage mich: Wie kann man darauf schlafen?“
Zwei der Jugendlichen nehmen außerdem an einem Termin einer Gesprächsrunde teil, die Benjamin Targan leitet. 12 Häftlinge reden mit ihnen offen und ehrlich über ihre Straftaten. Wer dort sitzt, hat ein umfangreiches Vorstrafenregister. „Ich sitze wegen schwerer Körperverletzung und mehreren Gewaltdelikten. 2 Jahre 8 Monate insgesamt“, erfahren sie von einem der Gefangenen, und ein anderer erzählt: „Ich sitze wegen schwerer Körperverletzung mit Todesfolge.“ Das könnte auch den Jugendlichen blühen, die aufgefordert sind, von ihren eigenen Problemen zu reden: Schlägereien, Raubüberfälle – die 14- und 15-Jährigen haben schon einiges auf dem Kerbholz.
Benjamin Targan weiß, wie schwer es ist, offen zu Fehlern zu stehen. Das sei aber nichts im Vergleich zu den vielen Jahren hinter Gittern. „Was meinst du, wie du dich selber hassen wirst, wenn du dafür 15 Jahre sitzen musst?“, sagt er dem Jungen. „Du wirst dich hassen dafür, dass du dich nicht unter Kontrolle hattest.“ Ein anderer Häftling fügt hinzu: „Wenn ihr hier seid… Ihr werdet völlig aus dem Leben gerissen. Hier ist kein Leben mehr. Und das Leben draußen geht weiter. Das habt ihr aber nicht mehr.“
Gefangene outen sich ehrenamtlich
Die Häftlinge führen die Gespräche mit den Jugendlichen freiwillig, sie machen das ehrenamtlich. An dem Projekt beteiligen dürfen sich hauptsächlich Gefangene, die auf kriminellen Weg versucht haben, sich zu bereichern. Denn genau darum geht es auch bei den meisten gefährdeten Jugendlichen. Und: Die Häftlinge müssen die Tat offensichtlich bereuen und bereit sein, mit den Projektteilnehmern von ihrem Verhalten und den resultierenden Konsequenzen zu sprechen.
Benjamin Targan ist einer dieser Häftlinge. Trotz des offenen Vollzugs fühle er sich noch nicht frei. Er teilt sich jetzt ein 16 Quadratmeter großes Zimmer mit einem Mithäftling. Man dürfe die Freiheit zwar kosten, aber man habe sie noch nicht, sagt er: „Die Jahre meines Lebens sind verschwendet. Die Zeit kriege ich nicht wieder. Die Sanduhr läuft und die Körnchen, die runtergefallen sind, die kriege ich nicht wieder.“