Die Türkei-Debatte brodelt weiter – und auch nach der stern TV-Berichterstattung über den umstrittenen türkischen Wahlkampf in Deutschland, bei der vergangene Woche vor allem die Erdogan-Anhänger zu Wort kamen, kochten die Gemüter. In der Redaktion meldeten sich mehrere tausend Zuschauer. Viele von ihnen äußern sich in ihren Mails allerdings kritisch über Erdogan und seine Politik. stern TV hat nachgefragt: Wie stehen sie zu den Auftritten türkischer Minister in Deutschland? Was sagen sie zu den aktuellen Entwicklungen in der Türkei? Und wie beurteilen sie den Streit zwischen den Niederlanden und der Türkei?
Wie ticken Deutschlands Türken?_14.45Simon Özkeles hat einen türkischen Migrationshintergrund, der Vater des 23-Jährigen ist gebürtiger Türke. Dennoch übt Simon Özkeles scharfe Kritik an der türkischen Regierung: „Wenn man Journalisten inhaftiert, wenn man die Presse- und Versammlungsfreiheit negativ beeinflusst, und wenn man eigentlich nur droht und nicht auf Verständigung und Dialog setzt, dann ist das für mich nicht mehr demokratisch. Dann ist das diktatorisch.“ Simon Özkeles ist Küchenleiter in einer Krankenhaus-Großküche. In seiner Freizeit engagiert er sich politisch als Ortsvorsitzender der SPD in Biberach. Sein Vater ist vor 46 Jahren nach Deutschland eingewandert, heiratete eine deutsche Frau und bekam mit ihr zwei Kinder – Simon und Yasmin. Wegen seiner Familie hat er die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen, da er „klare Verhältnisse schaffen“ wollte, sagt Cetin Özkeles. Ihm sei klar gewesen, dass sich der Rest seines Lebens in Deutschland abspielen würde: „Dann muss ich auch meinen Kindern nicht die Doppelstaatsangehörigkeit anbieten: Sie sind hier, sie wachsen hier auf und sie werden hier in die Gesellschaft integriert“
Cetin Özkeles ist inzwischen schwäbischer, als die meisten Schwaben. Abends sitzt die Familie bei einer typischen schwäbischen Vesper zusammen. Dauerthema: das bevorstehende Referendum in der Türkei. Tochter Yasmin empfindet, dass sie schon beinahe Angst hat, offen zu sagen, dass sie gegen Erdogan ist. Die gelernte Bankkauffrau war es auch, die stern TV nach dem Bericht vergangener Woche über Facebook schrieb: Ich verstehe die Türken hier in Deutschland nicht, die Erdogan toll finden. Wieso sind sie dann in Deutschland, in einem demokratischen Land?
Sie mache sich vor allem Sorgen, wie sich das Verhältnis zwischen Türken und Deutschen hier im Land entwickeln wird: „Ich denke, die Deutschen merken schon, dass viele Türken, die hier leben, für Erdogan sind. Und dann scheren sie leider auch alle Türken hier über einen Kamm. Und darum vermute ich, dass sich das Verhältnis verschlechtern wird.“
Ergebnisse Umfrage 15.03.2017 Türkei-Beziehungen
„Sehr viele Landsleute fallen auf Erdogans Spiel herein“
Zwischen den Regierungen beider Länder herrscht zumindest diplomatische Eiszeit. Bewusste Provokationen auf der einen Seite, Solidaritäten auf der anderen. Das Gros der Deutschen ist inzwischen dafür, dass die deutsche Regierung klarer Position beziehen und Wahlkampfauftritte türkischer Politiker rigoros verbieten sollte. Doch solche Stimmen gibt es auch von türkischstämmigen Deutschen, wie Kemal Akçocuk, der sagt: „Ich bin deutscher Staatsbürger. Ich bin gegen Erdoğans Wahlkampfauftritte in Deutschland.“ Kemal Akçocuk ist in der Türkei aufgewachsen und kam erst mit 24 Jahren hierher, heiratete und lebt nun mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Coesfeld. Kemal Akçocuk besitzt nur noch den deutschen Pass – und darüber sei er gar nicht unglücklich: „Ich bin gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Ein Land, das 3000, 4000 Kilometer weit weg ist – da habe ich nichts zu zu sagen. Ich bin davon nicht betroffen, wenn irgendeine falsche Entscheidung getroffen wird.“
STV_KW11_ReferendumÄhnlich sieht es Yücel Özkapi, der seit 41 Jahren in Deutschland lebt und seit 27 Jahren mit einer deutschen Frau zusammenlebt. Özkapi fühlt sich als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft und ärgert sich darüber, dass Erdogan versucht, seine Landsleute gegen die Deutschen aufzuhetzen: „Er sucht Gegner im Ausland, so wie jetzt mit Holland und Deutschland, dass er sie als Nazis beschimpft. So dass die eigenen Landsleute denken ‚Oh, die sind hier alle gegen die Türkei. Also müssen wir für die Türkei sein.‘ Und somit sind sie automatisch für Erdogan. Das ist einfach nur ein Spiel. Er spielt nur damit und sehr viele Leute fallen leider auf dieses Spiel herein!“ Yücel Özkapi äußert seine Meinung über die türkische Politik ganz offen, die geplante Verfassungsänderung dessen mögliche Zustimmung durch hier lebende Türken ist für ihn ein brisantes Thema: „Wenn die der Meinung sind, es sollte in der Türkei Diktatur herrschen, dann sollen sie doch gefälligst mit zurück. Warum leben sie denn überhaupt noch im Ausland, wenn es doch so wunderbar ist, die Diktatur.“
Und die türkische Regierung bleibt in Angriffslaune, allen voran Präsident Erdogan, der in den vergangenen Tagen mit abschätzigen Äußerungen über Angela Merkel hervortrat. Die Kanzlerin äußerte sich zu den neuen Provokationen nicht mehr. Aber was meint die deutsche Bevölkerung, was sagen die stern TV-Zuschauer dazu? In unserer Umfrage meinte der Großteil der deutschen und auch der türkischstämmigen Befragten dafür, dass Deutschland wie die Niederlande klar Position beziehen sollte und ein Verbot türkischer Wahlkampf-Veranstaltungen ausspricht. Der deutsche Vizepräsident des Europaparlaments Alexander Graf Lambsdorff geht sogar noch weiter und fordert: Die Europäische Union sollte sich auf die einheitliche Linie verständigen, dass türkischen Ministern Wahlkampfauftritte in der EU nicht erlaubt werden. Die Holländer machen vor, wie es geht, die Bundesregierung dagegen eiert herum.
„Ihr seid hier als Gäste herzlich willkommen, aber nicht als Wahlkämpfer“
Live bei stern TV traf Graf Lambsdorff auf den AKP-Politiker Mustafa Yeneroglu, der für den Wahlkampf seiner Partei im Ausland zuständig ist. Zu den Nazi-Vergleichen Erdogans räumte er als persönliche Sicht ein: „Ich bin nicht der Meinung, dass wir in Deutschland eine Situation haben, die den Nazi-Verhältnissen entspricht.“ Im Gegenzug warf Yeneroglu den deutschen Medien allerdings vor, für den Streit zwischen der Türkei und Deutschland mitverantwortlich zu sein, „weil sie die Situation in der Türkei falsch darstellen.“ Anders als oft geschrieben, „gibt es einen Meinungspluralismus in der Türkei. Davon kann sich jeder, der in die Türkei kommt, persönlich überzeugen“, so Yeneroglu.
Genau das sah Alexander Graf Lambsdorff, der das gemeinsame Durchgreifen der EU fordert, ganz anders. Europa solle der Türkei gemeinsam signalisieren: Ihr seid hier als Gäste herzlich willkommen, aber nicht als Wahlkämpfer.“ Auch genau weil es in der Türkei keine pluralistische Medienlandschaft mehr gebe. „Meinungsfreiheit lebt vom Wettbewerb der Meinungen. Und wenn der Wettbewerb nicht da ist, müssen wir sagen, dass hier keine Veranstaltungen stattfinden sollen, bei denen es keinen Widerstand gibt.“
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