stern TV diskutiert: Sollte Erdogan in Deutschland Wahlkampf machen dürfen?

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„Erdogan macht nicht mehr das, was der Westen will.“ Und das sei auch gut so, findet Erdogan Aktürk. Der Berliner Taxifahrer Erdogan Aktürk verstehe all die türkeistämmigen Menschen gut, die den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verehren. Er habe die Türkei groß gemacht.

Der Taxifahrer Erdogan Aktürk ist einer von rund drei Millionen Menschen in Deutschland mit türkischen Wurzeln. Er selbst kam im Alter von zehn Jahren nach Deutschland, inzwischen hat er einen deutschen und einen türkischen Pass. Aktürk hat in Deutschland Abitur gemacht und ein Architektur-Studium abgeschlossen. Als seine Frau vor zwanzig Jahren schwer krank wurde, beschloss er abends Taxi zu fahren und sich tagsüber um sie und die Kinder zu kümmern. Als Taxifahrer habe er über die Jahre die Breite der Gesellschaft kennengelernt, sagt er. Dabei sei ihm immer dasselbe passiert, Tag für Tag: „Du kannst hier Abitur machen, super Deutsch sprechen, ein guter Nachbar und Vater sein, du kannst hier arbeiten, einen deutschen Pass haben – aber in den Augen der Leute bist du Türke.“ Auch das sei ein Grund, warum er sich nach wie vor eher der Türkei zugehörig fühle. Und zu ihrem Präsidenten.

Umfrage DebatteAktürk wird mit seinem türkischen Pass einer von 1,4 Millionen sein, die hierzulande ab Ende März über die umstrittene Verfassungsänderung der Türkei abstimmen. Was die deutschen Medien schreiben, interessiert ihn kaum. Der Berliner Taxifahrer liest türkische Zeitungen, hat türkische Freunde und spricht innerhalb der Familie und unter Bekannten Türkisch. Überhaupt spielt das Deutsche bei Erdogan Aktürk nur eine untergeordnete Rolle – wie auch sein deutscher Ausweis: „Ich weiß mittlerweile, dass der deutsche Ausweis für mich nur ein bürokratischer Ausweis ist, ich identifiziere mich nicht damit“, sagt er.

Mehrheit der Deutsch-Türken fühlt sich weniger akzeptiert

Fühlen sich die Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland wirklich so außen vor? stern TV hat in einer repräsentativen Umfrage* nachgefragt: Sind Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland aufgrund ihrer Wurzeln weniger akzeptiert? 35 Prozent der befragten Deutschtürken sehen das nicht so, jedoch stimmten mehr als die Hälfte, 62 Prozent, dieser Aussage zu. Von den befragten Deutschen meinten nur 41 Prozent, das sei so.
„Vielleicht ist das auch das Unterbewusstsein, dass wir nicht so akzeptiert werden, wie wir sind“, sagt der Deutschtürke Mücahit Tefekci aus Aachen. Tefekcis Eltern kamen 1971 aus Anatolien nach Deutschland, um hier zu arbeiten. Er selbst ist in Aachen geboren. In der Grundschule und auf dem Gymnasium habe er aufgrund seiner türkischen Wurzeln keine Probleme gehabt, sagt der 39-Jährige. Heute ist er erfolgreicher Telekommunikations-Fachberater. Er verdient gut und ist bestens integriert. Und auch er steht hinter der Politik von Präsident Erdogan: Vor Erdogans Zeit war es mir ein bisschen peinlich, zu sagen: Ich bin Türke. Und in seiner Zeit sage ich einfach ganz stolz: Ich bin Türke!“

Chronologie der Spannungen Deutschland TürkeiViele Deutsch-Türken wenden sich der Türkei wieder zu. Das wird insbesondere bei den Ansprachen der Minister in Deutschland deutlich. Die Rede des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim in Oberhausen am 18. Februar war der Auftakt des Wahlkampfes von Recep Tayyip Erdogan in Deutschland. stern TV war vor Ort: „Ich fühle mich sehr gut dabei, wenn ein Staatspräsident hier zu uns kommt und uns unterstützt und wirklich verspricht, unsere Probleme in Deutschland hier zu verhandeln und zu beheben. Etwas Schöneres kann man sich gar nicht wünschen“, sagte eine Zuschauerin dort.

Doch es gibt auch Andersdenkende mit türkischen Wurzeln, die vehement gegen die türkische Politik demonstrieren und mehr Macht für Erdogan ablehnen – auch mit dem Gedanken an dort lebende Verwandte. Die türkische Community in Deutschland ist inzwischen in ein Pro- und ein Contra-Erdogan-Lager gespalten, meint auch Serap Güler vom CDU-Bundesvorstand: „Wir haben einerseits unter den Türkeistämmigen selbst eine große Spaltung. Und auf der anderen Seite noch die Spaltung zwischen der türkeistämmigen Community und der deutschen Mehrheitsgesellschaft.“

Ergebnisse der Befragung

stern TV hat 3.700 Menschen gefragt – mit und ohne türkische Wurzeln: Sollte in Deutschland Wahlkampf für Wahlen in der Türkei gemacht werden dürfen? Das Ergebnis: 28 Prozent der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund befürworten den Wahlkampf auf deutschem Boden, doch knapp 60 Prozent der Deutschtürken sind dagegen. Und nur vier Prozent der deutschen Befragten sind für einen türkischen Wahlkampf hier, 87 Prozent sprechen sich dagegen aus.  
Die Absagen der geplanten Veranstaltungen in Gaggenau, Köln oder Hamburg sind eine harte Prüfung für das deutsch-türkische Verhältnis. Auch Serap Güler, die selbst türkische Wurzeln hat, beunruhigen die aktuellen Spannungen, die sich durch radikale Anfeindungen von Erdogan-Anhängern gegenüber Andersdenkenden äußern würden: „Entweder ist man für Erdogan und liebt sein Vaterland. Oder man ist gleich ein Vaterlandsverräter, wenn nicht sogar ein Terrorist“, so ihre Erfahrungen der letzten Wochen.  

„Die Wahlkampfveranstaltungen sind schädlich für das hiesige Klima“

Güler selbst wurde 1980 im Ruhrgebiet geboren, ihre Eltern sind türkische Migranten. Sie machte Abitur und eine Ausbildung zur Hotelfachfrau, danach studierte sie Germanistik und Kommunikationswissenschaften – und ging schließlich in die Politik. 2012 zog Serap Güler für die CDU in den Landtag NRW und in den Bundesvorstand der Partei ein. In ihrer Funktion als integrationspolitische Sprecherin fürchtet die 36-Jährige, dass die politischen Wahlkampf-Auftritte Erdogans und türkischer Minister all ihre Bemühungen zerstören:  „Sie sind schädlich für das hiesige Klima, weil sie uns um Jahre zurückwerfen in unseren integrationspolitischen Bemühungen.“

Die Türkei entferne sich immer mehr von einem Rechtsstaat und von demokratischen Werten und sei unter diesen Voraussetzungen kaum noch als EU-Beitrittskandidat ernst zu nehmen. „Es muss eine deutliche Antwort der Bundesregierung Richtung Türkei fallen, dass Erdogan hier unerwünscht ist“, forderte die NRW-Landtagsabgeordnete vergangene Woche bei stern TV.
Seitdem wird Serap Güler für ihre Meinung vor allem in den sozialen Netzwerken massiv angefeindet. „Ich werde als Arschleckerin der Deutschen bezeichnet“, so die 36-Jährige. „Und als Vaterlandsverräterin.“ 

„Hier wird unsere Meinungsfreiheit dazu missbraucht, dass sie in der Türkei ausgeschaltet wird.“

Wie sehr belastet der aktuelle Streit die Stimmung zwischen Deutschland und der Türkei tatsächlich? Darüber diskutierte Serap Güler am Mittwochabend live in der Sendung mit dem AKP-Politiker und türkischen Regierungsberater Ozan Ceyhun, der den türkischen Außenminister diese Woche bei seinem Besuch in Hamburg und bei den Gesprächen mit Außenminister Sigmar Gabriel begleitet hat. Mi Blick auf die Verfassungsreform, um die es bei den Wahlkampfauftritten geht; sagte Güler: „Hier wird unsere Meinungsfreiheit dazu missbraucht, dass sie in der Türkei ausgeschaltet wird.“ Ceyhun hingegen unterstrich die Kritik an Deutschland: „Ich war immer stolz darauf, was die Freiheit in diesem Land bedeutet, und plötzlich darf ein Nato- und Handelspartner hier nicht reden.“ Das sei nicht in Ordnung. Denn auch Vertreter anderer Länder hätten dieses Recht in der Vergangenheit bekommen, behauptete Ceyhun. Serap Güler wollte diesen Vorwurf nicht gelten lassen. Denn das Werben für die türkische Verfassungsreform sei etwas anderes als frühere Wahlkampfauftritte. „Es ist paradox, dass Sie sich als Vertreter des türkischen Staates auf die Meinungsfreiheit berufen“, sagte sie zu Ceyhun und forderte, „dass die öffentliche Meinung, die politische Meinung und die Gesellschaft deutlich macht, dass Erdogan und seine Minister bei uns – in der Situation, in der sich die Türkei derzeit befindet – nicht willkommen sind.“

Alle Daten, soweit nicht anders angegeben, sind von der YouGov Deutschland GmbH bereitgestellt. An der Befragung zwischen dem 03.03.2017 und dem 08.03.2017 nahmen 3700 Personen teil, darunter 111 Personen mit türkischem Migrationshintergrund. Die Ergebnisse wurden gewichtet und sind repräsentativ für die deutsche Bevölkerung (Alter 18+).

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