Test mit versteckter Kamera: Kann man Gaffer eigentlich noch schocken?

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Ein Unfall, viele Passanten und kaum Hilfe:  Immer wieder kommen Gaffer in die Schlagzeilen, weil sie lieber Verletzte filmen als ihre Hilfe anzubieten – und so sogar Rettungskräfte bei ihren Einsätzen behindern. Das entstandene Bildmaterial wird dann in sozialen Netzwerken hochgeladen, nach dem Motto: Schaut mal, was ich gesehen habe. Kaum ein filmender Gaffer reflektiert, dass dieses Verhalten nicht nur respektlos und entwürdigend gegenüber den Unfallopfern und anderen Beteiligten ist, sondern auch klar gegen deren Persönlichkeitsrechte verstößt! „Wenn ich mir vorstelle, dass Fotos oder Videos von dem Unfall in den sozialen Medien hochgeladen wurden, dann kann ich nur sagen: Zum Kotzen. das Gefühl ist richtig mies und macht mich traurig“, sagt Marius Schmitz.

Der 31-jährige LKW-Fahrer hatte im Mai auf der A9 bei Bayreuth einen schweren Unfall, bei dem drei Personen verletzt wurden, zwei davon schwer. Schmitz hatte beim Einfädeln einen Kleintransporter übersehen, der daraufhin mit Wucht in seinen LKW krachte. Die Feuerwehr musste die Insassen aus dem Führerhaus des Kleintransporters herausschneiden, auch ein Rettungshubschrauber war im Einsatz. „Zahlreiche Menschen strömten vom umliegenden Rastplatz Sophienberg auf ein neben der Unfallstelle gelegenes Waldstück. Einige der Gaffer von den dahinterstehenden Autos kamen sogar bis an die Unfallstelle.“ Marius Schmitz wurde bei dem Unfall nicht verletzt, erlitt jedoch einen Schock. „Alle Menschen waren so sensationsgeil. Gaffer sind meiner Meinung nach böswillig.“

So helfen Sie am Unfallort Ersthelfer (2061748)“Das Problem hat eine neue Dimension erreicht“

Doch nicht nur die emotionale und die Persönlichkeitsverletzung der Unfallbeteiligten und Opfer ist ein Problem. Durch Gaffer entstehen auch Staus auf der Gegenfahrbahn, für die Hilfsfahrzeuge ist kein Durchkommen durch die Rettungsgasse, es bilden sich Trauben von Menschen um die Opfer – Unfallgaffer erschweren die Rettungs- und Bergungsmaßnahmen durch Hilfskräfte oftmals massiv. „Gaffer an sich gab es schon immer, doch durch Smartphones und soziale Medien hat das Problem eine neue Dimension erreicht“, sagt Michael Mertens von der Gewerkschaft der Polizei in NRW, der 17 Jahre lang selbst im Streifendienst unterwegs war. „Der Kampf um die besten Kamerastandpunkte führt zu immer dreisterem Verhalten den Rettungskräften gegenüber.“

Weiterer Verbesserungsbedarf am Gesetz

Durch eine Gesetzesverschärfung, die seit Juni 2017 in Kraft ist, sollen Schaulustige und Gaffer nun für ihr Verhalten stärker belangt werden können. In der Praxis fehlt der Polizei allerdings vor Ort oft die Zeit, das Gaffen zu ahnden, da die Versorgung der Verletzten und das Sichern der Unfallstelle Vorrang haben. Die Übeltäter kommen weiterhin meist ungestraft davon. Michael Mertens findet das neue Gesetz trotzdem gut, weil es mehr Rechtssicherheit für das Durchgreifen der Polizei schaffe. „Allerdings fordern wir zusätzlich, dass Aufnahmen von den installierten Kameras in den Polizeiautos und Bilder, die von Gaffern in sozialen Medien hochgeladen werden, zur Identifizierung und Bestrafung genutzt werden dürfen“, so der stellvertretende Vorsitzende der Polizei-Gewerkschaft. In der Hinsicht bestehe noch Verbesserungsbedarf an dem Gesetz. Zudem fordert Mertens: „Gaffen sollte gesellschaftlich mehr geächtet werden und auch in Fahrschulen schon ein wichtiges Thema sein“, so der 54-Jährige. Zudem sollten seiner Meinung nach Facebook und andere soziale Netzwerke dazu verpflichtet werden, von Gaffern hochgeladene Bilder zu löschen.

INFO Neues Gaffer-Gesetz

Der stern TV-Test mit versteckter Kamera

stern TV hat den Test gemacht: Was treibt Menschen dazu, jeden Respekt vor dem Leid anderer zu vergessen, bloß um ihre Neugier zu befriedigen oder möglichst spektakuläre Bilder zu erhaschen?

Mit Hilfe der Rettungskräfte der Stadt Cottbus und geübten, realistischen Unfalldarstellern spielte sich die erste Szenerie an der Synagoge auf der Cottbusser Flaniermeile Sprem ab. Per Hebebühne beförderten wir zwei Personen hoch zum Turm, die vorgaben, das Mauerwerk zu reinigen. Plötzlich kollabierte dort oben unser Lockvogel Tina. Ein anaphylaktischer Schock, der Lebensgefahr bedeutet. Lockvogel Christian bei ihr schrie um Hilfe: Seine Kollegin reagiere nicht mehr! Sei blau angelaufen!
Ein Mann reagierte sofort. Er zückte sein Handy – und begann tatsächlich zu filmen… Die meisten anderen taten nichts, sondern starrten einfach nur nach oben. Immerhin: Ein Mann wählte den Notruf, ein anderer begann, mit Lockvogel Christian zu sprechen und ihn bei Hilfsmaßnahmen anzuleiten. Währenddessen hatten schon etliche weitere Passanten ihre Fotoapparate und Smartphones auf das bewusstlose Opfer gerichtet. Und wenig später, während des inszenierten professionellen Rettungseinsatzes, fotografierten und filmten sie wie wild.

„Helfen können wir ja sowieso nicht“

stern TV hat die sozialen Netzwerke parallel gecheckt: Nur Minuten später tauchten die Aufnahmen auf Facebook, Youtube und anderen Plattformen auf. Und so strömten immer mehr Gaffer zu der bekannt gegebenen Unfallstelle in Cottbus. Ein Mann gab offen zu, davon in einer WhatsApp-Gruppe erfahren zu haben und deshalb gekommen zu sein. Das Credo der meisten, die wir konfrontierten: „Helfen können wir ja sowieso nicht.“

Wenige leisten erste Hilfe, das Gros gafft und filmt – ohne schlechtes Gewissen

Mit einer derart billigen Ausrede konnten die Gaffer beim zweiten Unfall-Szenario nicht wegkommen: ein klassischer Verkehrsunfall, bei dem ein Radfahrer mit einem Auto kollidierte. In einem solchen Fall wäre jeder Passant verpflichtet, erste Hilfe zu leisten. Zuvor versteckt aufgeschminkte Wunden und Blut machten die Unfallinszenierung täuschend echt.  Aufgeschreckt durch den Knall starrten gleich alle Passanten zur Unfallstelle. Lockvogel Christian lag vermeintlich schwer verletzt auf dem Pflaster. Der tätliche Autofahrer – zu geschockt, um Hilfe zu leisten. Wie reagieren die Menschen in unmittelbarer Umgebung?

Mehrere Autofahrer, die den Unfall direkt vor sich hatten sehen können, blickten im Vorbeifahren nur auf das Opfer – und fuhren dann weiter. Ein junger Mann wählte den Notruf, ein paar Passanten eilten Christian zur Hilfe. Doch für die meisten war der Unfall offenbar einfach ein spannendes Spektakel. Auf Nachfragen reagierten die Gaffer schroff oder waren sich erneut keiner Schuld bewusst. Ein Mann beobachtete minutenlang die Bemühungen der Helfer. Er war wohl nicht zum ersten Mal Unfallgaffer: „Mich wundert nur, dass die so lange brauchen, bis sie ihn raufbringen. Vermutlich irgendwelche Wirbelschäden“, sagte er. Eine junge Frau gab sogar zu, ihre Aufnahmen auf Facebook zu teilen und sie ihren Freundinnen zeigen zu wollen: „So oft passiert in Cottbus ja nichts.“

Fazit des stern TV-Experiments: Bei beiden Unfällen gab es Menschen, die vorbildlich erste Hilfe leisteten. Die meisten Passanten allerdings haben einfach nur gegafft oder gleich ihr Handy gezückt.

Haben Sie so etwas auch schon einmal erlebt? Schreiben Sie uns von Ihren Erfahrungen und diskutieren Sie hier unten auf der Seite:

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