Niemand hat sich je schneller durch das deutsche Fernsehen gerattert als: Der Dieter. Der Thomas. Der Heck. Jüngere Zuschauer, die von Kindesbeinen an mit RTL und SAT.1 aufwuchsen, wissen allerdings gar nicht mehr, worauf sich Hecks legendärer Ruf gründet. Sie haben den gebürtigen Flensburger nur noch als gesetzten älteren Mitarbeiter eines ähnlich gesetzten älteren Senders erlebt – und meist nur für Sekunden. Spätestens dann schalteten Kiddies, Teenager und alle anderen Zapper unter fünfzig bei ZDF-Sendungen wie „Melodien für Millionen“ um.
Doch er war halt auch schon im Geschäft, als das Zweite Deutsche Fernsehen nicht nur Gruft, sondern auch noch Kult produzierte. Fünfzehn Jahre lang war Heck-Watching Pflicht für sämtliche Besitzer eines Fernsehgeräts. Knapp eineinhalb Jahre nach der Einführung des Farbfernsehens in Deutschland flimmerte Anfang 1969 die erste ZDF-Hitparade über die Bildschirme.
Die Zutaten des von Heck und einem TV-Regisseur erdachten Formats: Man nehme einen eloquenten Radiomoderator und stecke ihn ins Fernsehen. Dort tue er das, was er bisher schon tat: Deutsche Musikhits einem größtmöglichsten Publikum vorstellen. Auf der Europawelle Saar des Saarländischen Rundfunks hatte Heck zuvor überaus erfolgreich die Sendung „Die Deutsche Schlagerparade“ moderiert.
Von Anfang an hatte Heck es eilig. Kein Wunder: Das erste Bild, das am 18. Januar 1969 aus Berlin zu sehen war, war die Aufnahme einer Stopuhr, die auf 0:00:00 stand – und dann zu zählen begann. Ein weiteres Stilmittel, das über die Jahre zum Erkennungsmerkmal wurde, war der sofort folgende Schwenk durchs Hitparaden-Studio. Bei so vielen schnell vorbei brausenden Studiogästen konnte es dem statikgewöhnten deutschen Zuschauer durchaus schwindlig werden.
„Am Mikrofon ist Ihr Dieter Thomas Heck“
Auftritt Moderator. Mit einem schnittigen „Und hier ist Berlin. Das Zweite Deutsche Fernsehen präsentiert ihnen die Ausgabe Nummer eins der Hitparade“ meldete sich der frühere Autoverkäufer bei den Zuschauern. Um, noch etwas ans Radio gewöhnt, fortzufahren: „Am Mikrofon ist Ihr Dieter Thomas Heck“.
Der nichtsahnenden Welt erklärte Heck zunächst die hohe Kunst des Halb-Playbacks: „Wir fahren live. Das heißt, nur das Orchester und der Chor kommen vom Band, alles andere kommt vom Original.“ Sprich: Die auftretenden Künstler, sie singen wirklich. Aus diesen Interpreten, einer Vorauswahl des Schallplattenfachhandels und anderer Hit-Gremien, galt es, die „Lieblinge auszuwählen. Denn die Hitparade machen nicht wir, die machen sie.“ Heck sagte diese Worte nicht einfach, er schrie sie zu Beginn noch. Als wolle er nicht nur ein kleines Saalpublikum unterhalten – sondern ein gefülltes Fußballstadion, in dem ein Open-Air-Konzert stattfindet.
FS Dieter Thomas Heck 80. Geburtstag 16.50Schlagermärchen mit Roy Black
In einer starken Dreiviertelstunde brachte der in graues Tuch gekleidete Schnellsprecher stramme 14 Sangeskünstler unter. Dass das funktionierte, lag an Interpreten wie der gleich zu Beginn auftretenden Anna Lena. Nicht einmal eineinhalb Minuten trällerte die Schwedin ihr Liedchen. Auf einer Bank im Publikum sitzend, gab sie folgendes zum Besten: „Rot ist die Liebe, und Deine Augen blau – und mir ist, als ob ich in den Himmel schau.“ Ein Nebensitzer mit Friedbert-Pflüger-Look linste die braunhaarige Dame mißtrauisch von der Seite an – trotz ihrer holden Worte.
Es folgte ein ganz Großer des Deutschen-Liedgut-Geschäfts. Dessen Karriere gleiche einem „Schlagermärchen“, so Heck: Gerhard Höllerich. Höllerich, besser bekannt unter dem Namen Roy Black und noch in voller Blüte stehend – tiefschwarzes Haar, noch dunklere Augen – , schmachtete: „Ich denk an Dich, wohin ich geh, Dein Abschied tut mir weh.“ Und Heck moderierte ihn so ab, wie er das immer gerne machte. Er baute einen Verweis auf das Lied in seine Abmod ein: „Wenn Sie an ihn denken möchten, vergessen sie nicht die Zwo.“ Die Zwo war Roy Blacks Startnummer.
Von schwungvoll über ausladend bis elegant
Die Songs blieben weiter im Vergnüglich-Leichten-Seichten. Die Startnummer 3: Graham Booney. Der Brite forderte seine Zuhörerinnen auch singend dazu auf, die „Drei-Drei-Drei“ zu wählen: „Wähle 3-3-3 auf dem Telefon, wähle 3-3-3, und du hast mich schon, wähle 3-3-3 und glaube mir, ich bin 1-2-3 schon bei dir.“ An diesem Abend und in dieser Show hatte Booneys Look fast schon etwas Anarchisches. Anders als seine Anzug-tragenden Kollegen hatte sich der kotellettierte Niederländer ein hippie-eskes weißes Hemdchen übergestülpt – und wippte kess mit den Beinen hin und her.
Ähnlich kess sagte Heck seine weiteren Sanges-Schäfchen an. Immer wieder hatte er das linke Bein auf einen Stuhl gestellt. Darauf stützte er seinen einen Arm, in der Hand hielt er das Kabel-Mikrofon – mit Mikroschleife, damit der Ton nicht kratzt. Mit dem anderen Arm machte Heck seine berühmten Gesten: Von schwungvoll über ausladend bis elegant. Und vor dem Moderator rauchte es munter. Kein Bodennebel, sondern Zigarettendunst. Auf dem Pult seines Tontechnikers hatte Heck ein Päckchen Zigaretten stationiert – und gönnte sich während der Sendung ein oder zwei Kippen. Gegen seine Nervosität? Von der war bei der ersten Hitparade rein gar nichts bei Heck zu spüren.
Ach ja. Neben dem Qualmen on Air waren es auch ansonsten herrlich unbeschwerte Zeiten. Zumindest teilweise: Mit einem Titel namens „Zigeunerhochzeit“ würde Siw Malmkvist heute auf der Index-Liste der politisch Korrekten landen. Damals konnte die Schwedin freilich noch intonieren: „Ein Zigeunerwagen bleibt niemals stehen. Niemand weiß, woher sie kommen und wohin sie gehen.“ Das Saalpublikum klatschte fröhlich mit, auf eins und drei.
Besonders dominierten an diesem Abend im Jänner ’69 das -o. Jaqueline Boyer’s Herz sagte zwar Oui-oui-oui, aber dachte no-no-no. Rex Gildo sang Dondolo. Und Karel Gott gab den Doktor Schiwago: „Weißt Du wohin die Tränen fliehen“. Zumindest damals sah Gott noch ein bißchen wie der arme Cousin aus dem Ostblock aus. Und auch sonst wirkten die meisten Stars noch nicht so geklont wie in modernen Zeiten. Ana Lena fehlte ein Stückchen Vorderzahn. Und Erik Silvester – „O la la, sie hat rotes Haar“ – grinste dermaßen breit, dass eine fette Lücke sichtbar wurde – der Schneidezahn fehlte. Bata Illic – „Mit verbundenen Augen“ – dagegen hätte zumindest eine Zahnspange brauchen können. Heute schaut es deutlich besser aus im Mund des serbischen Schlagersängers.
Zwischendrin immer wieder Moderator: Das Playback war kaum zu Ende, der Künstler noch nicht von der Bühne und der Applaus hatte noch gar nicht eingesetzt, da war Dieter Thomas Heck schon wieder präsent. Fliegender Wechsel, Ansage nächster Titel. Durchschnittlich alle drei Minuten ging das so. Zwischendurch fand Herr Stakkato-Sprech dennoch die Zeit, das eine oder andere über seine Stars zu erzählen. Als ein junger Mann namens Peter Orloff ein kurzes Ruhepäuschen in seinem Lied“ Sie schaut mich immer wieder an“ einlegte, rief Herr Heck sofort: „Peter Orloff stammt aus einer alten russischen Familie, war beim Schwarzmeer-Kosaken-Chor, ist nun Jura-Student und 21 Jahre alt.“ Auf den Punkt genau war er fertig, um Orloff weitersingen zu lassen. Beeindruckend.
Klimper, was die Wimper hält!
Schon im zarten Alter von 32 Jahren verhielt sich der Moderator so galant wie in seinen späteren Jahren. Fast rührend kümmerte er sich der Gentleman um eine an einer Stütze ins Studio humpelnde Dame namens Renate Poggensee. Poggensee – Künstlername Renate Kern -, so klärte Heck das Publikum auf, „hat Pech gehabt: Sie wurde von einem Auto angefahren.“ Weshalb die schöne Renate ihr Lied – Heck: „Der Text stammt von ihr“ – eben am Krückstock sang. Kerns Song war eine Aufforderung zu gelebter Emanzipation, auch bei der Anmache: „Du musst mit den Wimpern klimpern, wenn ein Boy dir gut gefällt. Zwinker nur mit deinen Augen. Klimper, was die Wimper hält! Schöne Mädchen gibt es viele, sei nicht schüchtern, werd‘ nicht rot! Du musst mit den Wimpern klimpern, bei dem Überangebot.“
Als musische Schlaftabletten gingen höchstens zwei Songs durch. Teenager-Idol Manuela glänzte bei „Guantanamera“ zwar mit etwas Sing-Speak – lange vor der Erfindung des Raps. Ansonsten wirkte die Sängerin aber recht benebelt. Einige Jahre später behauptete sie, dass ein ZDF-Hitparaden-Mitarbeiter 20.000 DM Bestechungsgeld für einen Auftritt von ihr verlangt habe und wurde vom Zweiten vorübergehend boykottiert.
Abstimmung per Postkarte
Auch Gerhard Wendlands „Liebst Du mich“ glich einer kleinen Schlager-Nachtmusik. Kein Wunder: Der Mann war schon damals, also Ende Sechziger, zwanzig lange Jahre im Schlagergeschäft. Es passte, dass Wendlands Gähnnummer der letzte Titel der Show war: „Wie es bleibt, so war es immerzu“ oder so ähnlich hieß es da. Zu guter Letzt ließ Heck die Titel – fast in allen ging es um die Liebe – noch einmal per Schnelldurchlauf Revue passieren. Er forderte seine Zuschauer auf, per Postkarte für ihren Favoriten zu stimmen – mit Fortsetzung am 22. Februar. Unglaublich, aber wahr: Nur ein einziges Mal und erst ganz zum Schluss versprach sich der als Kind stotternde Heck. Und zwar minimal. Lampenfieber schien der Mann schon bei seinem Debut nicht zu kennen.
Die ZDF-Hitparade war für den früheren Autoverkäufer jedenfalls das ideale Berufsfeld. Hier verkaufte er weiter – statt PKWs eben Songs. Nach anfänglich zögernden Reaktionen von Teilen der Zuschauern und der Fernsehkritik gelang es Heck, seine Show zum Markenzeichen des ZDF zu machen – und sich selbst gleich mit. Mit schneidigen Ansagen à la: „Der Tony.“ – Kunstpause – „Der Marshall.“ Und einem später fast zum stehenden Begriff werdenden Satz: „Hier ist die Hitparade im Zet-De-Ef – aus dem Studio Eins der Berliner Union“.
Mehr Ansager als Entertainer
In einer Zeit, in der viele Bürger bei deutschem Lalala und Tralala zunehmend die Nase rümpften, traf Heck mit seiner Sendung voll ins Schwarze. Denn neben dem frischen Wind der späten Sechziger gab es dieses eben auch noch: Den anderen deutschen Zeitgeist. Der wünschte sich ein bißchen Frieden, ein bißchen heile Welt. Zumindest für fünfundvierzig Minuten. Und mit Dieter Thomas Heck als dem Fels in der unruhigen Brandung.
Hecks TV-Personality war, dass er keine zu haben schien. Höchstens durch seine Art des Moderierens stellte er sich in den Vordergrund. Ansonsten hielt er sich allzeit zurück. Nie hörte man seine Meinung zu dem, was er präsentierte. Ein Dienstleister am Fernsehzuschauer also: Mehr Ansager als Entertainer. Aber was für ein Ansager! Stets behandelte Heck die bei ihm auftretenden Künstler mit derselben Noblesse. Auch wenn ihm das später, in den frühen Achtziger Jahren, bei Raubauzen wie der Neuen-Deutschen-Welle-Gruppe „Trio“ nicht immer leicht gefallen sein dürfte. Vielleicht wurde ihm die „NDW“ irgendwann zu viel des Guten, 1984 übergab er seine Hitparade jedenfalls in andere Hände. So erfolgreich wie zu Hecks Zeiten wurde die Sendung freilich nie mehr.
Ein bisschen mehr Personality erlaubte sich dieser so professionelle Fernsehmann übrigens erst in seiner letzten ZDF-Sendung – der oft kitschigen Show „Melodien vor Millionen“. Als seine Frau Ragnhild vor sechs Millionen Zuschauern erzählte, dass sie nach langer Erkrankung krebsfrei sei, begann Dieter-Thomas Heck zu weinen. Es war keine kitschige Inszenierung. Es war ein rührender, ein schöner Moment.