„Boulez-Saal“: Daniel Barenboims denkendes Ohr

0
831

In Berlin ereignet sich gerade ein kleines Wunder. Im Windschatten von Staatsoper, Schloss und Museumsinsel, von Kostenexplosionen, Bauzeitverzögerungen und Konzeptgerangel eröffnet am 4. März völlig skandalfrei ein Konzertsaal, der in Europa seinesgleichen sucht. Und es kann gar nicht genug betont werden, was der „Boulez-Saal“ und die unterm selben Dach angesiedelte Barenboim-Said-Akademie alles an Vorzüglichem vereinen: beste Lage, feinste Architektur, erstklassiger Klang, einmaliges Konzept und ein Impresario von Weltrang.

Stardirigent und Pianist Daniel Barenboim, der Gründer und Präsident beider Einrichtungen, hat sich und seinem 2003 gestorbenen Freund und Wegbegleiter, dem Kulturwissenschaftler und Schriftsteller Edward Said, mit diesem Haus einen Traum erfüllt: Schon im Herbst 2016 startete die neu gegründete „Barenboim-Said-Akademie“ ihren Lehrbetrieb – eine staatlich anerkannte Musikhochschule, mit der das von beiden ins Leben gerufene West-Eastern Divan Orchester an eine feste Institution angebunden wird.

Vor allem Studenten aus Israel, Palästina und arabischen Ländern werden hier zu Musikern ausgebildet und studieren gleichzeitig „Humanities“ – Philosophie als Bedingung, Musik zu verstehen: Barenboims Ideal des „denkenden Ohrs“. Noch stehen im Foyer die Bars für die verschiedenen Emporen, Handwerker bohren Löcher und ziehen Kabel. Im künftigen arabischen Café, für das gerade ein Pächter gefunden wurde, sitzen die Studierenden mit Rucksäcken, Thermoskannen und Instrumenten. Und aus dem Gang im ersten Stock tönen Klavierübungen. Im Boulez-Saal sitzt nur ein einziger Zuschauer und filmt drei probende Musiker mit einer winzigen Digitalkamera: Der japanische Meister-Akustiker Yasuhisa Toyota genießt sein Werk.

Die Besten aller Welten

Barenboim hat seinem neuen Haus auch gleich ein neues Orchester geschenkt – ein Zusammenschluss aus den Besten aller Welten: Studenten und Professoren der Akademie spielen hier mit Musikern aus der Berliner Staatskapelle und dem Divan Orchester sowie Gästen in einem sich ständig neu formierenden „Boulez-Ensemble“. Und mit dem ersten Konzert des neuen Klangkörpers stimmt Barenboim den Boulez-Saal und sein Publikum auf das künftige Programm ein: Geschult am Vordenker und musikalischen Pionier Pierre Boulez sollen immer wieder neue Horizonte eröffnet werden, wobei stets Werke der Romantik, der Klassischen Moderne und Zeitgenössisches zusammengebracht werden.

Saal und Akademie sind so etwas wie die rechte und die linke Herzkammer von Barenboims Neugründung, eingepflanzt ins ehemalige Kulissenmagazin der Berliner Staatsoper: Unterschiedliche Aufgaben, gleicher Impuls, gemeinsamer Präsident. Intendant des Saals ist der Däne Ole Baekhoj, zuletzt Manager des von Claudia Abbado gegründeten Mahler Chamber Orchestra. Als Rektor der Akademie fungiert der ehemalige Kulturstaatsminister Michael Naumann. Die Architektur des Saals, zwei sich übereinander schiebende Ellipsen, hat Frank Gehry seinem Freund Barenboim geschenkt. Aus einer flüchtigen Skizze enthusiastischer Kringel entwickelte der in Kalifornien lebende Architekt ein flexibles Gehäuse, das den Musikern größtmöglichen Gestaltungsraum bei engstem Kontakt mit dem Publikum erlaubt. Je nach Anlass ist der bis zu 620 Besucher fassende Saal als Arena, Amphitheater, Theater oder 360-Grad-Bühne bespielbar. Und um das Ganze klanglich abheben zu lassen, spendierte der auch für die Elbphilharmonie verantwortliche japanische Akustiker Yasuhisa Toyota seine Expertise.

„Gleichheit, auf Augenhöhe“

„Klassik ist manchmal fad“ David und Daniel Barenboim im … (1624727)Beide taten dies nicht nur, weil sie Daniel Barenboim eng verbunden sind, sondern auch aus Begeisterung für ein Projekt, mit dem Barenboim seit 1999 seine Biografie und sein künstlerisches Schaffen zu einer Utopie verdichtet: Das West-Eastern Diwan Orchestra mit seinen Musikern aus Israel, Palästina und anderen arabischen Ländern bringt Barenboims humanistisches Ideal zum Klingen: „Gleichheit, auf Augenhöhe, und nicht voneinander abgewandt – wenn beide Seiten das akzeptieren, dann kann man diskutieren. Diese menschlichen Konditionen, die können wir uns hier schaffen. Draußen in der Welt sind sie nicht gegeben.“ 14 Millionen Euro hat Barenboim an Spenden zusammengetragen, die restlichen 21,4 Millionen für den Bau gab das Staatsministerium für Kultur. Der Bund finanziert den Betrieb der Hochschule, das Auswärtige Amt die Stipendien für die bis zu 90 Studierenden. Für einen Euro pro Jahr pachtet die Akademie das Gebäude vom Land Berlin.

Daniel Barenboim sitzt im Akademie-Trakt, vor sich eine Kanne mit frisch aufgegossenem Earl Grey. Im November wird er 75 Jahre alt. Gerade hat der wohl einzige Israeli mit einem palästinensischen Pass sein 60-jähriges Bühnenjubiläum an der New Yorker Carnegie Hall gefeiert und dort mit der Berliner Staatskapelle alle Bruckner-Symphonien in einem großen Kraftakt dirigiert. Nun erinnert er sich an Edward Said, seinen Freund, mit dem er 1999 anlässlich des Kunstfestes Weimar das Divan-Orchester gegründet hat.

„Wir werden von diesen jungen Leuten mehr lernen als sie von uns“

„Er war von einer politischen Ehrlichkeit, die beispielhaft war. Deswegen konnten manche Israelis so schwer mit ihm. Er hat sie nicht beleidigt, er hat nur gesagt: Denkt daran, wie ihr Jahrhunderte lang verfolgt wart. Von den römischen Zeiten bis Hitler. Wie kann ein Volk, das so gelitten hat, ein anderes Volk besetzen?“ Barenboim und Said lernten sich 1992 in einer Londoner Hotellobby kennen. „Er hat mich angesprochen und wir haben uns für fünf Uhr verabredet. Dann trafen wir uns und blieben sozusagen ungetrennt bis zu seinem Tod. Egal, ob ich in Tokio und er in New York war, wir haben jeden Tag telefoniert. Ich vermisse das sehr. Mit Edward Said konnte ich alles teilen.“

Dass Barenboim das einst nur für das Weimarer Kulturfest zusammengestellte jüdisch-arabische Orchester in eine so wundervolle Institution verwandelt hat, konnte Said nicht mehr miterleben. Doch etwas, so Barenboim, habe er schon früh geahnt: „Erstens: Du wirst sehen, das ist kein Projekt für nur einen Sommer. Und zweitens: Wir werden von diesen jungen Leuten mehr lernen als sie von uns.“

Read more on Source