Was später als das Gladbecker Geiseldrama in die deutsche Geschichte eingehen sollte, begann am 16. August 1988 mit einem gewöhnlichen Banküberfall: Dieter Degowski, 32, und Hans-Jürgen Rösner, 31, überfielen am frühen Morgen die Filiale der Deutschen Bank in der nordrhein-westfälischen Stadt Gladbeck. Die Männer nahmen zwei Bankangestellte als Geiseln und forderten 300.000 DM und ein Fluchtauto. Durch eine Verkettung von absurden Polizeifehlern sowie dem unberechenbaren Verhalten der beiden Verbrecher entwickelte sich dieser Bankraub vor den Augen der deutschen Öffentlichkeit zu einer 54-stündigen Nervenprobe für Geiseln und Angehörige, die für mehrere Menschen tödlich endete.
Die ARD hat das schreckliche Ereignis in einem packenden Zweiteiler aufgearbeitet, der den Ablauf dieses Verbrechens rekonstruiert und zeigt, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte.
Zahlreiche Polizeifehler beim Fall Gladbeck
Die erste Fehleinschätzung unterlief dem Einsatzleiter der Polizei in NRW. Der entschied sich dagegen, der Geiselnahme durch Stürmung der Bank ein schnelles Ende zu bereiten und setzte stattdessen auf eine Zermürbung der Täter. Diese Taktik sollte sich als ein Fehler erweisen. Doch schon hier zeigt sich, dass der Zweiteiler (Buch: Holger Karsten Schmidt, Regie: Kilian Riedhof) keine vorschnellen Urteile fällen will, sondern sich um größtmögliche Objektivität bemüht und niemanden denunziert. Denn der von Ulrich Noethen gespielte Beamte wird in „Gladbeck“ als anständige Figur gezeichnet, der ruhig und besonnen reagiert. Viele seiner Entscheidungen erweisen sich eben erst im Rückblick als Fehler. Es gehört zu den Stärken dieses Films, dass er viele Fragen aufwirft, die Antworten aber letztlich dem Zuschauer überlässt.
Da die Polizei Rösner (Sascha Alexander Geršak) und Degowski (Alexander Scheer) gewähren ließ, bestiegen die beiden um 21.45 Uhr mit zwei Geiseln das Fluchtauto – und kurvten die nächsten 40 Stunden völlig ungehindert durch die Republik. Kein Polizist hindert sie daran. Eine Vorstellung, die aus heutiger Sicht kaum zu fassen sind. Es wird nicht das letzte Mal sein, dass der Zuschauer entsetzt den Kopf schüttelt.
Ein Politiker trat zurück
Es ging von Gladbeck über Hagen nach Bremen, wo sich die Entführer in aller Seelenruhe in einer Boutique einkleideten. Die Polizei verpasste dabei gleich mehrere gute Gelegenheiten, die Geiseln zu befreien. Denn dem deutschen Föderalismus sei Dank war nun die Bremer Polizei zuständig – und mit der Situation noch mehr überfordert als die Beamten in NRW. Es gab nicht einmal funktionierenden Krisenstab, der mit den Geiselnehmern in Dialog treten konnte. So kaperten Rösner und Degowski am Abend des zweiten Tages mitten in Bremen einen vollbesetzen Bus und nahmen die Fahrgäste in ihre Gewalt. Der Pressefotograf Peter Meyer (Albrecht A. Schuch) vermittelte zwischen den Entführern und der abgetauchten Polizeiführung.
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Während der Bremer Innensenator Bernd Meyer (Stephan Kampwirth) später immerhin die Konsequenzen zog und wegen polizeilicher Fehler zurücktrat, blieb sein nordrhein-westfälische Kollege Herbert Schnoor (August Zirner) im Amt. Das Versagen der Behörden nahm im Fortgang des Geiseldramas immer absurdere Züge und kostete dem 15-jährigen Italiener Emanuele De Giorgi das Leben. Degowski schoss dem Jungen eine Kugel in den Kopf, letztlich verblutete er, weil kein Rettungswagen zugegen war.
Da war die Odyssee der Geiselnehmer aber noch lange nicht vorbei. Denn in der Nacht überquerte der Bus die Grenze zu den Niederlanden, wo die Entführer den Bus gegen einen neuen Fluchtwagen eintauschten. Mit zwei Geiseln an Bord ging es nun nach Köln, wo sich der vorletzte Akt des Dramas abspielte: Das Auto parkte mitten in der Kölner Innenstadt, umringt von Fotografen und TV-Teams, die mit den Verbrechern schamlos Interviews führten. Es gehört zu den Tiefpunkten der deutschen Mediengeschichte, wie Journalisten diese Verbrecher hofierte und sie wie Stars inszenierte.
Der Deutsche Presserat änderte seine Satzung
In besonderem Maße tat sich der Boulevardjournalist Udo Röbel (Arnd Klawitter) hervor. Der stellvertretende Chefredakteur des „Express“ nahm engen Kontakt zu den beiden Geiselnehmern auf und stieg sogar in den Wagen ein, um sie auf die Autobahn zu lotsen. Röbels Karriere schadete das nicht – er wurde später zum stellvertretenden Chefredakteur der „Bild am Sonntag“ ernannt.
Die Bilder des von Journalisten umringten Fluchtwagens gehören zu den abstoßendsten Szenen des dreitägigen Geiseldramas. Und blieben nicht ohne Konsequenzen: Drei Wochen später stellte der Deutsche Presserat klar, dass Geiselnehmer während einer Geiselnahme nicht interviewt werden sollten und eigenmächtige Vermittlungsversuche nicht zu den Aufgaben von Journalisten gehörten. Auch in einem anderen Punkt äußerte sich der Presserat deutlich: „Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens darf es nicht geben.“
Für den tragischen Schlussakt trug der nordrhein-westfälische Innenminister die Verantwortung: Der Politiker wollte die Geiselnahme unbedingt in den Grenzen seines Bundeslandes beenden. So kam es auf der Autobahn A3 zum Schusswechsel zwischen Polizei und Geiselnehmern. Im Kugelhagel kam eine der beiden Geiseln, die 18-jährige Silke Bischoff, ums Leben. Laut Polizeibericht starb sie durch einen Schuss aus der Waffe Rösners.
„Mangel an richtigen Entscheidungen“
Gladbeck Mutter Silke Bischoff_12.00Bischoffs Mutter gibt dem damaligen Innenminister Herbert Schnoor die Schuld, der den Einsatz verantwortete. „Die Polizei hat ja nur zugeguckt, als die Gangster aus der Bank raus sind und aus Gladbeck weggefahren sind“, sagte sie dem stern. „Und später wurde auf der Autobahn ohne Rücksicht auf das Leben der Geiseln zugeschlagen. Die haben Krieg gespielt.“
Schnoor verteidigte sich später im parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landes NRW damit, es habe keine falschen Entscheidungen gegeben, sondern „nur einen Mangel an richtigen“.
„Gladbeck“ ist Geschichtsfernsehen im besten Sinne: Es bereitet ein prägendes Ereignis akribisch auf und versetzt den Zuschauer in eine 30 Jahre zurückliegende Zeit. Die Fragen, die der Film aufwirft, sind dabei hochaktuell. Denn nicht zuletzt das multiple Behördenversagen im Falle des Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri werfen die Frage auf, inwieweit der Föderalismus unsere Sicherheit gefährdet. Vielleicht stößt „Gladbeck“ eine neue Debatte an.
Die ARD zeigt den Zweiteiler „Gladbeck“ am Mittwoch, 7. März und Donnerstag, 8. März, jeweils um 20.15 Uhr.
NRA TV Dana Loesch 19.15