Nebelschleier streifen über dicht bewaldete Hügel, Laub verfärbt sich herbstlich gelb und rot. Idyllisch schaut es aus im Niederbayerischen, nahe der deutsch-tschechischen Grenze, mit seinen vielen Schutzgebieten für Natur, Landschaft und Tiere.
Wenn sich dort zwischen Nadelbäumen in der Morgendämmerung ein Gewehrlauf langsam auf ein Stück Wild richtet und das dabei verletzte Reh anschließend vom Jäger den Gnadenschuss erhält, verheißt das zu Beginn einer Filmgeschichte nichts Gutes. Und so kommt es dann auch, wobei Hans-Christian Schmids «Das Verschwinden» alles andere als ein üblicher Provinzkrimi ist.
Vielmehr handelt es sich bei dem Projekt um eine achtteilige Miniserie an vier Abenden, von diesem Sonntag an (21.45 Uhr) im Wochenrhythmus zu sehen und ein innovatives TV-Projekt eines vielfach preisgekrönten Kinoregisseurs («Was bleibt»), das zudem ungewöhnlich feinfühlige, messerscharfe Blicke auf unsere Gesellschaft richtet – selbst wenn es am Ende sehr dicke kommt. Und es ist mit Schauspielern wie Julia Jentsch («24 Wochen» im Kino), Nina Kunzendorf, Sebastian Blomberg, Martin Feifel sowie der jungen Johanna Ingelfinger – um nur diese zu nennen – meisterhaft besetzt. Das Drehbuch hat Schmid (52) mit seinem Weggefährten Bernd Lange verfasst, die außerordentliche Kameraführung verantwortet Yoshi Heimrath. Bei 90 Drehtagen standen für das Projekt sechs Millionen Euro zur Verfügung.
Mit großer Resonanz hat das Stück im Sommer auf dem Münchner Filmfest Premiere gefeiert. Die sechsstündige Geschichte erzählt von einer Woche im Leben der alleinerziehenden Altenpflegerin Michelle Grabowski (Jentsch). Deren 20-jährige Tochter Janine (Elisa Schlott) scheint unter mysteriösen Umständen wie vom Erdboden verschluckt. Die Vermisstenanzeige der Mutter landet jedoch schnell in den Akten der Polizei. Niemand mag an ein Verbrechen glauben, nicht hier in der fiktiven Kleinstadt Forstenau. So sieht sich Michelle gezwungen, auf eigene Faust auf die Suche zu gehen. Schnell schockiert sie, was sie über ihre Tochter und deren Umfeld in Erfahrung bringt.
Die Droge Crystal Meth, in Tschechien gebraut, spielt dabei nur eine Rolle. Der türkischstämmige Kleindealer Tarik (Mehmet Atesci) verhökert sie an Janines Freundinnen Manu (Ingelfinger) und Laura (Saskia Rosendahl). Deren Eltern wirken in Bezug auf das Treiben ihrer Kinder genauso ahnungslos wie Michelle, die noch eine kleine Tochter (Anne-Marie Weisz) von einem anderen Mann hat. Manus Vater Leo Essmann (Blomberg) ist als Bauunternehmer eine örtliche Größe und hat Janine einst beschäftigt. Lauras tiefreligiöse Eltern Wagner (Caroline Ebner, Michael Grimm) gehören einer unteren Schicht an. Sie müssen erfahren, dass ihre Tochter der schwerkranken Mutter Geld stiehlt.
Der Film, der das Geschehen in präzise inszenierten, oft seltsam starren sowie dunklen, diesig grellen oder auch zwielichtigen Bildern einfängt, entwickelt von Anfang an Sogwirkung. Der Zuschauer wähnt sich dem Durchschnittsleben im Bayerischen Wald nahe, bangt mit Michelle und will sie unbedingt auf ihre Gänge in die Disko, zu den Meth-Kochern und in die Familien der Halbwüchsigen begleiten. Eindringlich zurückgenommen verkörpert Jentsch diese Figur, liebend, existenziell aufgewühlt – und völlig überfordert. Je mehr sie sucht, desto mehr dringt die Enddreißigerin hinein in ein die Stadt umfassendes Gespinst aus Kriminalität, Lügen, familiären Abgründen und der Haltlosigkeit junger Menschen.
Dort haben die Älteren längst das Vertrauen ihrer Kinder verspielt und wo bald ein Sündenbock – ein sozialer Außenseiter – gefunden und geopfert wird. Schmerzlich muss Michelle, nachdem Schreckliches passiert ist, erkennen, dass gerade sie ihren Teil zu den Verfehlungen der Erwachsenen beigetragen hat. «Das Leben», sagt sie einmal, auf einer Brücke stehend, zu Janines bester Freundin Manu, «macht nicht immer nur Spaß.» Die antwortet: «Das glaube ich dir sofort. Aber warum wollt ihr dann, dass wir so werden wir ihr?»