Von Hirschhausen fordert Steuer: Süßes Gift: Warum Zucker Deutschlands größtes Suchtproblem ist

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Kinder, die schon im Grundschulalter unbeweglich sind, die nicht spielen oder rennen können, die gehänselt werden, die an Diabetes leiden und in jungen Jahren schon süchtig sind – süchtig nach Zucker. Das ist in Deutschland längst keine Seltenheit mehr: Fast jedes sechste Kind ist übergewichtig. Die Zahl krankhaft dicker Kinder hat sich seit den 90er-Jahren sogar verdoppelt. Zucker zählt als Hauptursache mittlerweile zu den Suchtmitteln Nummer 1 bei Kindern. Dabei ahnt kaum ein Kind, was Zucker mit ihm macht. Die Folge: Sie leiden auf lange Sicht unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rücken- und Gelenkproblemen, aber auch unter sozialer Isolierung. Oft kommen sie den Rest ihres Lebens davon nicht mehr los. 67 Prozent der deutschen Männer sind übergewichtig oder adipös, bei den Frauen sind es 53 Prozent. Die Folgen kosten unser Gesundheitssystem laut Robert-Koch-Institut jährlich 63 Millionen Euro.

Immer mehr 14-Jährige mit „Altersdiabetes“

Die Klinik Schönsicht in Berchtesgaden will betroffenen Kindern und Jugendlichen helfen, ihre „Sucht“ zu überwinden und sich gesünder zu ernähren. Vor allem aber ihr Gewicht zu reduzieren. Der 14-jährige Luca ist dort seit gut vier Wochen dort. Bei seiner Ankunft wog er 138 Kilogramm, mittlerweile hat er über 10 Kilogramm abgenommen. Auf sein Gewicht kam der Junge hauptsächlich, weil er gegen Problem in der Familie aß – als sich seine Eltern vor drei Jahren kurz vor Weihnachten getrennt hatten, habe es angefangen: „Ich habe meistens Schokolade oder Chips gegessen“, erzählt Luca. „Oder wenn wir etwas Fettiges gebacken oder gekocht hatten, dann habe ich meistens mehr davon gegessen.“

Was sind Zucker-Alternativen?Ein großes Problem seien bei Jungen wie Luca gerade orthopädische Probleme, sagt Chefarzt Helmut Langhof. Außerdem eine Erkrankung der Bauchspeicheldrüse, die angesichts der Zuckermengen so viel Insulin produzieren muss, dass sie kapituliert. „Typ 2 Diabetes, die hat man früher Alterszucker genannt. Heute haben wir das bei 14-Jährigen. Das  ist doch verrückt!“, so Langhof. Immerhin: Luca muss beim täglichen Sportprogramm der Jugendlichen schon wesentlich weniger Pausen machen, als noch am Anfang. Die Motivation durch die Gruppe und Ärzte tut ihm gut. In der Schule sei er oft ausgegrenzt und auch beleidigt worden, erzählt der 14-Jährige: „Die sagen dann ‚Iiih‘ oder ‚Fettsack‘, ‚Roll weiter‘ und solche Sachen.“ Damit sich Luca und die anderen Jugendlichen künftig bewusster ernähren, lernen sie in der Klinik, wo besonders viel Zucker drin steckt, etwa in einem einzigen Fruchtjoghurt – mit umgerechnet sieben Zuckerwürfeln! Auch für Luca überraschend: „Das habe ich nicht gedacht. Aber wenn ich das jetzt so sehe, dann sollte man nicht so viel davon essen.“

Eckart von Hirschhausen: „Klare Kennzeichnung und Steuer auf schädliche Zuckerprodukte“

Vor allem der versteckte Zucker mache die Deutschen zu dick, sagen mehr als 2000 deutsche Ärzte, die sich gemeinsam gegen Fehlernährung engagieren. Oft unbewusst nimmt jeder von uns pro Jahr etwa 35 Kilogramm Zucker zu sich. Das entspricht knapp 100 Gramm pro Tag (32 Zuckerwürfel). Diese Dosis ist viermal höher, als von der Weltgesundheitsorganisation empfohlen – nämlich 25 Gramm. Im Kampf gegen den hohen Zuckerkonsum müsse die Bundesregierung endlich handeln. Eckart von Hirschhausen und seine Ärztekollegen fordern zusammen mit Verbraucherorganisationen, dass auf Verpackungen eine deutliche Nährwert-Ampel aufgebracht wird und das besonders zuckerhaltige Lebensmittel besteuert werden, gesunde dagegen von der Umsatzsteuer befreit und somit preiswerter werden. „Warum soll es nicht möglich sein, auf die Flaschen und Dosen draufzuschreiben, was drin ist?“, so von Hirschhausen. „Und warum soll es nicht möglich sein, den Schaden, den das Zeug für unsere Gesellschaft anrichtet, in den Preise mit einzurechnen? Wir müssen viel mehr Mut dazu haben, Dinge, die wir als Gesellschaft kostenmäßig tragen, auch verantwortlich zu regeln. Beim Rauchen in den Kneipen ging das ja auch. Deshalb klare Kennzeichnung und Steuer auf die schädlichen Zuckerprodukte.“

stern TV Studiogespräch mit Eckart von Hirschhausen

Eltern und Kinder trifft bislang allenfalls ein geringes Eigenverschulden. Der Suchtstoff steckt in nahezu jedem Produkt aus dem Supermarkt. Er tarnt sich als Fruchtaroma und versteckt sich sogar in herzhaften oder vermeintlich gesunden Lebensmitteln wie Joghurt. Wer weiß schon, wie viel in welchem Produkt steckt? Etwa in Orangensaft, Frühstücksflocken, Fruchtschorlen oder Nutella? stern TV hat Eltern und Kinder vor einem Supermarkt nach ihren Einschätzungen gefragt. Ergebnis: Die meisten von ihnen lagen falsch. Statt geschätzten sieben Zuckerwürfeln enthält eine Flasche O-Saft umgerechnet 30 Würfel; in einem Glas Nussnougatcreme stecken 84 Würfel, also über 150 Gramm Zucker, und nicht wie geschätzt nur 18 Würfel. Die von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung empfohlene Tageshöchstmenge für Kinder liegt übrigens bei 7 Zuckerwürfeln. Das sind 15-20 Gramm.

Schätzen Sie – Wie viel Zucker… Stevia Cola & Co. (618017)

„Wir brauchen mehr Gesundheitskompetenz in den Vorschulen und Schulen“, fordert Eckart von Hirschhausen. Kinder sollten selbst wissen, was ihnen gut tut, und was nicht. „Wir müssen beispielsweise zeigen, dass Wasser der beste Durstlöscher ist, und nicht etwa die gezuckerten Limonaden, die von der Wissenschaft als entscheidende Treiber von Übergewicht überführt wurden. Das sind keine Durstlöscher, sondern Dickmacher – quasi Schokoriegel in flüssiger Form.“

Der 14-jährige Luca in den vier Wochen in der Klinik Schönblick große Fortschritte gemacht. Beim gemeinsamen Kochkurs etwa lernt er, wie gut eine selbstgemachte Alternative gegenüber der Fertigpizza schmeckt und dass selbstgebackene Muffins immer noch besser sind, als gekaufte. Zudem muss man dann nicht vier Muffins essen, sondern einfach einen. Luca hat mit seinen 126 Kilogramm noch immer einen weiten Weg vor sich. „Mein größter Wunsch für die Zukunft ist, dass ich wieder normalgewichtig bin.“ Und dieser Wunsch ist schon größer, als die Sucht nach Zucker.

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