Familiealltag mit Handicap: Wie diese blinden Eltern ihre sehende Tochter großziehen

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Ob im Straßenverkehr, beim Einkaufen oder Essen kochen: Der Alltag stellt diese kleine Familie vor viele Herausforderungen. Denn: Hannah Reuter und ihr Mann Gendun Buthia sind blind. Ihre Tochter Mila jedoch kann sehen und ist ganz schön aufgeweckt. Die Drei wollen trotzdem wie eine ganz normale Familie sein – ein paar Kleinigkeiten unterscheiden sie aber doch. Wie in anderen Familien wird bei Hannah Reuter, ihrem Mann und Mila im Pyjama gefrühstückt, der Grund ist ganz einfach:  „Das garantiert einfach das wir hinterher keine Flecken auf unserer Kleidung haben mit denen wir losgehen“, erklärt die 35-Jährige. Denn die würden sie vielleicht wohl nicht bemerken. Dass es Tag für Tag und immer mal wieder zu kleinen Missgeschicken kommt, nimmt Hannah Reuter gelassen: Es fällt etwas herunter und sie finden es nicht auf Anhieb wieder? „Nicht schlimm“, so die Mutter. „Es passiert ja nichts.“ Als Mila kleiner war, sei das – je nachdem, was runtergefallen war, anders gewesen. „Da sind wir gnadenlos so lange auf dem Boden rumgerobbt, bis wir es wiedergefunden haben.“

Doch inzwischen ist ihre Tochter schon recht eigenständig und hilft hier und da sogar, zum Beispiel beim Wiederfinden von Sachen. Die Wohnung der Familie ist liebevoll eingerichtet mit Bildern und kleinen Details, die die Mutter zwar gar nicht sehen kann, die 35-Jährige legt trotzdem großen Wert darauf. Ebenso wie auf das Erscheinungsbild ihrer Tochter. Die aktuelle Lieblingsfarbe der Dreijährigen: Pink. Um zu kontrollieren, ob sie das richtige Kleidungsstück auswählt, benutzt Hannah Reuter ein Farberkennungsgerät: Mittelrot-Violett ist Rosa oder Pink. Für die blinde Mutter ist das Gerät eine große Hilfe, da Mila die Farben noch nicht sehr zuverlässig bestimmen kann. „Wenn man Mila fragt, welche Farbe etwas hat, ist eigentlich zu 95 Prozent alles grün“, lacht Hannah.

Wie Mila tatsächlich aussieht, kann sich ihre Mutter nur bedingt vorstellen: Sie weiß, wie groß ihre Tochter ist, wie ihr Körperbau ist, wie sich ihre Locken anfühlen – doch Vieles bleibt ein Mysterium. „Eine große Unbekannte ist für mich die genaue Haarfarbe“, erzählt sie.

Zwei blinde Elternteile rufen Skepsis hervor

Hannah Reuter ist von Geburt an blind, vermutlich durch einen genetischen Defekt. Ihre Familie ist sehend. Mit ihrer Sehkraft  von etwa 2 Prozent kann sie Lichtquellen und einige wenige Farbbereiche wahrnehmen. „Am besten geht Rot, bei hellen oder dunklen Farben geht es gar nicht“, erklärt die 35-Jährige. „Die eigentlich schmerzhafte Erfahrung war, von der Umwelt diese Behinderung widergespiegelt zu bekommen. Das Fremdbild, das die Leute von mir hatten, stimmte mit meinem Selbstbild überhaupt nicht überein.“ Hanna Reuter führte schon früh ein selbstbestimmtes Leben, studierte Sprachwissenschaften und reiste mit ihrem damaligen Blindenhund durch Europa. In Berlin wurde sie schließlich sesshaft; derzeit schreibt sie an ihrer Doktorarbeit. Das leben ohne Augenlicht stellt für sie kein großes Hindernis mehr dar.

Ihr Mann Gendun kennt noch ein Leben mit Augenlicht. Er stammt aus Nordindien, wo er in jungen Jahren als Mönch lebte und Buddhismus studierte. Er erinnere sich noch lebhaft an die Farbenpracht dort, an Sonnenaufgänge, sagt er. Als er 29 Jahre alt war, löste sich aus ungeklärten Gründen seine Netzhaut – innerhalb eines Monats verlor er sein Augenlicht. Er kam für eine Operation nach Deutschland, die jedoch nichts an seiner Lage änderte. Sein Glaube habe ihm geholfen, das Schicksal zu akzeptieren. Dann lernte der junge Mann Hannah Reuter kennen. Die beiden heirateten. Als Mila zur Welt kam, war das Glück perfekt. Doch die jungen Eltern hatten auch gegen Widerstände und Vorurteile zu kämpfen, wie die 35-Jährige erzählt: „Als ich noch mit der Babytrage herumgelaufen bin, hatte ich das Gefühl, dass die Leute mich argwöhnisch beäugen, nach dem Motto: ‚Kann sie das? Stolpert sie gleich und zerquetscht das Baby unter sich? Wie machen die das denn zuhause?‘ Gerade wenn die Leute erfahren: Oh Gott der Mann ist ja auch blind! Dieses ständige auf dem Prüfstand stehen hat mich sehr belastet.“

Mit Blindenhund und sprechender Küchenwaage durch den Alltag

Ihr Mann Gendun arbeitet als tibetischer Gesundheitstherapeut und bringt unter anderem Eltern die Techniken der Babymassage bei. Dabei ist sein fehlendes Sehvermögen nicht hinderlich, denn es zählt allein der Tastsinn. “ Sonst bin ich schon eingeschränkt. Aber während der Massagearbeit fühle ich die Behinderung gar nicht. Deshalb macht mir das große Freude“, so der 39-Jährige.

Wenn Hannah Reuter rausgeht und etwa ihre Tochter von der Kita abholt, wird sie von der Blindenhündin Daika begleitet, die den Weg kennt und die beiden sicher durch die Stadt und an Hindernissen vorbeiführt. Hannah trägt Mila meist auf den Schultern. „Ich habe dann auch das sichere Gefühl, dass Daika die veränderte Höhe mit einrechnet“, erzählt Hannah. „Das ist ihr Spezialtalent. Auch wenn ich eine dicke Tasche auf einer Seite trage, stellt sie sich darauf ein.“

Mutter und Tochter beim Einkaufen: Für die Hündin sind die Menschenmassen und lauten Geräusche sehr anstrengend. Manchmal kommt es dann doch zu Zusammenstößen, Hannah Reuter muss dann schnell erklären, dass sie blind ist. „Mir passiert es oft, dass die Leute gar nicht sehen, dass ich blind bin. Sie denken dann, dass ich etwas absichtlich gemacht habe.“

Beim Aussuchen neuer Sachen für ihre Tochter lässt sich die Mutter im Geschäft jedes Kleidungsstück bis ins Detail beschreiben: Wie sieht es aus? Wie wäscht man es? Die Familie bewältigt ihren Alltag tapfer allein, daheim werden sie von manchem Blinden-Hilfsmittel unterstützt, wie dem Farberkennungs-Gerät oder einer läutenden Uhr. Jetzt, zur Weihnachtszeit, will auch Hannah Reuter mit Mila Plätzchen backen. Dazu nutzt sie ein Rezept aus dem Internet, das sie sich per Sprachausgabe vorlesen lassen kann. Weiteres Hilfsmittel: eine sprechende Küchenwaage. Und solche Familienmomente möchten die Eltern für ihre Tochter auch mit der Kamera festhalten, sie selbst werden diese Fotos niemals sehen. Auch, wenn Mutter und Vater nur bedingt einschätzen können, was sie vor der Linse haben: manchmal ist ein Volltreffer dabei. Und darüber wird sich das Mädchen später sicher freuen.

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