Kottbusser Tor in Berlin: Ein Leben zwischen Kriminalität, Gewalt und Drogen

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Einen besonders guten Ruf hatte das Kottbusser Tor in Berlin noch nie. Drogendealer, Junkies und Gewalttäter prägen das Bild mitten im Zentrum von Kreuzberg. Immer wieder macht der Platz Schlagzeilen. Vor allem in den letzten Jahren ist die Kriminalität am „Kotti“, wie die Berliner sagen, noch einmal stark angestiegen: 2016 verzeichnete die Polizei knapp 2300 Verbrechen. Allein die Fälle von Drogenkriminalität sind von 340 im Jahr 2015 auf 762 Straftaten 2016 angestiegen, haben sich also mehr als verdoppelt. Auch bei den Raubüberfällen und Körperverletzungen stiegen die Zahlen deutlich um etwa die Hälfte. Die Dunkelziffer sei jedoch hoch, meint die Polizei, da viele Angst hätten Anzeige zu erstatten.

Gewerbe verzeichnen Einbußen durch hohe Kriminalitätsraten

Wie lebt es sich an einem solchen sozialen Brennpunkt? Der Kotti ist auch für tausende Menschen ein Zuhause. 80 Prozent der Anwohner haben einen Migrationshintergrund, wie Ercan Yasaroglu. 58-Jährige lebt seit über 35 Jahren am Kottbusser Tor. Mitten am Platz betreibt er das Lokal „Café Kotti“. Die Gewerbetreibenden fühlten sich von der Politik im Stich gelassen, so Ercan Yasaroglu, und: „Sehr viele in der Zivilbevölkerung haben Angst, an diesem Platz vorbeizulaufen, in Ruhe einkaufen zu gehen. Ältere Menschen haben Angst wenn es dunkel ist und gehen nicht mehr aus ihren Wohnungen.“

Ein Bekannter von Yasaroglu betreibt seit vier Jahren direkt am Platz die kleine Pizzeria „Pizza Kotti 36“. Can Bulus hat hautnah miterlebt, wie sich die Zustände gerade in den letzten Jahren verschlimmert haben. „Ich hab selber Angst“, sagt der Türke. „Ich habe zwei erwachsene Kinder, 23 und 20 Jahre alt. Die lasse ich zum Beispiel beide nicht hierher kommen. Sie dürfen nicht zum Kotti kommen, auch nicht in meinen Laden. Weil es gefährlich ist. Es ist gefährlich.“ Neben der täglichen Angst habe die Situation auch Folgen für sein Geschäft: „Das liegt vor allem an den Drogendealern, die direkt vor meinem Geschäft verkaufen. Die Kunden trauen sich nicht mehr rein, Touristen kommen auch nicht mehr wegen dieser schlechten Szene.“ Sein Geschäft verzeichne Einbußen von 60 Prozent.

„Er wurde mit einem langen Messer niedergestochen“

Auch für Şirin Manolya Sak ist das Kottbusser Tor seit 2009 ihr Zuhause. Sie lebt nur wenige hundert Meter vom Platz entfernt. Der Alltag ist für die Deutsch-Türkin nicht immer einfach, da sich auch direkt neben ihrer Haustür mit den Drogen konfrontiert würde: „Neben dem alltäglichen Müll, finden sich hier manchmal auch Spritzutensilien von Drogenkonsumenten, Taschentücher mit Blut.“ Hin und wieder müsse sie auch Junkies verscheuchen.
Auf dem Weg zur Arbeit läuft Şirin Manolya Sak jeden Tag über den Platz – und wird immer angesprochen, meist von jungen Männern, die – egal wem – Drogen anbieten. Dealer auf offener Straße zu jeder Tages- und Nachtzeit sind für die 32-jährige Journalistin Normalität geworden. Doch ein Erlebnis lasse sie bis heute nicht los: „Ich bin damals in Richtung Kottbusser Tor gelaufen. Es war dunkel. Ich habe zwei Männer schreien hören und bin aufmerksam geworden. Dann sah ich im nächsten Augenblick, wie ein Mann den anderen jagte. Und derjenige wurde dann mit einem langen Messer hier niedergestochen. In den Rücken. Ich habe noch nie so viel Blut auf einmal gesehen. Im ersten Moment hatte ich wirklich Angst, dass der jetzt vor meinen Augen stirbt.“ All diese Erfahrungen seien für sie aber kein Grund, in eine andere Gegend von Berlin zu ziehen, sagt Şirin Manolya Sak: „Hier leben die Leute total bunt gemischt, auf dem kleinsten Raum zusammen. Und natürlich gibt es Situationen, die explosiv sind.“

Einsatzgruppe „Kottbusser Tor“ soll Kriminalität eindämmen

Seit Februar dieses Jahres ist die Polizei gezielt vor Ort im Einsatz, um gegen Drogendealer, Junkies und Gewalttäter vorzugehen. Eine Reaktion des Berliner Senats auf den Anstieg der Kriminalität. stern TV hat die Einsatzgruppe „Kottbusser Tor“ bei ihrer Arbeit mit der Kamera begleitet, als die Beamten quasi im Minutentakt verdächtige Personen kontrollierten. Die zehn orts- und szenekundigen Einsatzkräfte des Polizeiabschnitts 53 sollen zu einschlägigen Tages- und Nachtzeiten für Ordnung am Kottbusser Tor sorgen. Der 50-jährige Einsatzleiter und Ur-Berliner Karsten Bonack ist seit über 30 Jahren bei der Polizei. Mehrmals täglich spricht er Platzverweise aus – leider oft das einzige, das seine Einsatztruppe tun kann, weil die einzelnen Vergehen zu gering sind. In aller Regel werden junge Männer aufgegriffen, die Drogentütchen bei sich haben: Taschenkontrolle, dann müssen sie die Verdächtigen ziehen lassen. Es sei denn, es handelt sich um harte Drogen wie Heroin oder Extasy.
Polizeikommissarin Susann Weigel macht das oft zu schaffen, sagt sie. Immer wieder nähmen sie Personen in Gewahrsam, dann würden sie wieder frei gelassen – und am nächsten Tag säßen sie wieder dort. Das wiederhole sich schier unendlich. „Aber man weiß ja, dass man trotzdem immer etwas bewirkt. Umso mehr man an Delikten dieser Person sammelt, desto wahrscheinlicher, dass sie auch mal hinter Schloss und Riegel gebracht wird“, so Weigel.

Bei drei offensichtlichen Drogenkonsumenten, die das Team der Polizei aufgriff, fanden sich zahlreiche Spritzen für den Heroingebrauch. Einer der Konsumenten: ein Mann aus Tschetschenien, der erzählt: „Ja, ich nehme Drogen. Weil ich früher Scheiße gebaut habe und eine Strafe gekriegt habe.“ Er sei acht Jahre wegen Totschlags im Gefängnis gewesen, so der Mann. Da der Besitz von Spritzen allein allerdings nicht strafbar ist, musste die Einsatztruppe auch diese Drei nach der Kontrolle wieder laufen lassen. „Letztendlich kommen sie immer wieder, der Platz ist wie ein Magnet, der die Leute immer wieder anzieht“, sagt Einsatzleiter Karsten Bonack. Auch die Geschäftsinhaber Ercan Yasaroglu und Can Bulus begrüßen die Präsenz der Polizisten zwar, sehen ihren Spielraum aber kritisch: „Die Polizei ist eigentlich immer da, aber ich sehe, dass sie machtlos sind. Die nehmen Personen mit, und am nächsten Tag oder ein paar Stunden später sind sie wieder frei.“

Mehr Aggressionen und Waffenbesitz durch Räuber

Weit verbreitet am Kottbusser Tor ist der so genannte Antanztrick, um Wertsachen zu stehlen. Diese Szene soll sich seit Ende 2015 verstärkt haben. Bei Gegenwehr kommt es vielfach zu Gewaltanwendung, die Tätergruppe gilt als besonders aggressiv. Den Polizisten ist klar, dass jede einzelne Kontrolle auch für sie lebensbedrohlich sein kann. Jeder, der angesprochen wird, könne eine Waffe oder ein Messer besitzen und herausholen, sobald die Situation eskaliert. „Ich selber bin noch nicht so bedroht worden, es kann aber jeden Tag passieren“, sagt Polizeikommissarin Susann Weigel.

Was ist der Antanztrick 19.25Während des stern TV-Interviews mit Şirin Manolya Sak etwa tauchte plötzlich ein Mann auf, der der 32-Jährigen bereits bekannt ist. Er bot ihr ganz unverhohlen Haschisch an. Die Polizisten griffen ein, drückten den ihn zu Boden. Der Mann hatte zuvor mit einer Waffe Aufsehen erregt, woraufhin eine Passantin die Polizei gerufen hatte. Erst durch den Einsatz stellte sich heraus, dass die Waffe zwar täuschend, aber nicht echt war. Der Mann wurde festgenommen, abgeführt und erhielt einen Platzverweis. Eine Stunde später war er wieder vor Ort. Karsten Bonack sprach ihm einen zweiten Platzverweis aus. Der Mann protestierte, drohte und schrie: „Du bist mein Gegner. Abstand, hab ich dir gesagt! Bevor ich dich schlage. Abstand! Ich bin auch Soldat!“

Das Fazit fällt für die Einsatzgruppe „Kottbusser Tor“ oftmals ernüchternd aus. Ihre Präsenz und ihr Durchgreifen habe dennoch seinen Sinn, sagt Susann Weigel am Ende des Tages: „Man hat wieder etwas bewirkt. Egal wie wenig es ist, oder ob es dann doch mal mehr ist. Man weiß ja, wofür man es macht. Und man bekommt trotzdem das Feedback von den Bürgern, die sich einfach ein stückweit sicherer fühlen, die einem auch entgegenkommen und sagen ‚Super, danke, dass ihr da seid, danke, dass endlich mal was gemacht wird‘.“

Was bringt die Polizei-Präsenz der Einsatzgruppe „Kottbusser Tor“?

Live bei stern TV sprach Steffen hallaschka darüber mit der verantwortlichen Kriminaldirektorin Tanja Knapp vom Polizeiabschnitt 53:

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