Psychopharmaka bei bipolarer Störung: Wenn der Suizid im Beipackzettel steht

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Der Tod von Melissa Beck ist äußerst tragisch. Die 20-jährige bildhübsche Studentin nahm sich selbst das Leben. Und das nur wenige Stunden nach ihrer Entlassung aus der psychiatrischen Klinik. Ihre Mutter ist fest davon überzeugt: Melissas Suizid ist die Folge einer falschen Behandlung ihres psychischen Leidens. Das Mädchen habe Tabletten bekommen, die sie in den Tod trieben – ein „ärztlich veranlasster Suizid“, sagt Claudia Beck: „Durch das Medikament wurde sie zur Waffe gegen sich selbst.“ Die Mutter kämpft seit Jahren dafür, dass der Tod ihrer Tochter endlich aufgeklärt wird: „Ich möchte, dass die Verantwortlichen sich der Verantwortung stellen.“

Bipolare Störung wird häufig vererbt

Melissa Beck hatte eine glückliche Kindheit – trotz der Trennung der Eltern. Sie war eine gute Schülerin und Claudia Becks ganzer Stolz. Nach sechs Jahren lernte die Mutter einen neuen Mann kennen. Für Melissa kein Problem – sie verstand sich gut mit ihm. Die Drei bezogen gemeinsam ein neues Haus. 2012 machte Melissa Beck Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,9. Danach jobbte und feierte sie, machte Urlaub und entschied sich nach einem Jahr für ein Studium „Bewegung und Gesundheit“ in Gießen. Die 19-Jährige liebte Sport, ebenso wie Musik und Theater.

Als Melissas Prüfungsergebnisse 2013 nicht gewohnt gut ausfielen, zogen erstmals dunkle Wolken über ihr auf. Doch Melissa habe sich davon nicht beirren lassen, erzählt die Mutter. Sie wollte sich durchbeißen – und auch ihre Stimmung habe sich gebessert. Die tieftraurigen Phasen jedoch kamen wieder. Als Melissa Beck ihre Mutter im Sommer 2014 besuchte, war Claudia Beck schockiert: Ihre Tochter war völlig aufgelöst. „Sie ließ sich in den Sessel fallen, kauerte sich zusammen, knetet ihre Hände unentwegt, die Augen weit aufgerissen – wie jemand, der gerade einen furchtbare Schreckensgral durchlebt.“

Claudia Beck zögerte nicht und brachte Melissa zu einer niedergelassenen Psychiaterin, die eine schwere Depression diagnostizierte und Melissa als Notfall an die Psychiatrie des Klinikums Bremen Ost überwies. Doch ihre Mutter – selbst Diplom-Psychologin – zweifelte schon nach kurzer Zeit daran, ob ihrer Tochter auf ihrer Station wirklich geholfen werden würde. Sie fürchtete, dass Melissa wie ihr leiblicher Vater, Claudia Becks Ex-Mann, an einer bipolaren Störung erkrankt, also manisch-depressiv sein könnte. Ein Alarmzeichen, sagt der renommierte Psycho-Pharmakologe Prof. Müller-Oerlinghausen, dem der Arztbrief von Melissa Beck vorlag.  „Die bipolare Störung hat einen ausgeprägten Erbgang. Wenn der Vater sowas hat, dann muss man davon ausgehen, dass sie auch daran erkrankt ist.“

Hinweis SuizidBeipackzettel warnte vor Suizidgefahr

Was hinter der Erkrankung von Melissa Beck steckte, hatten die behandeln Ärzte der Klinik möglicherweise verkannt. Und das, obwohl die überweisende Psychiaterin auf die familiäre Vorbelastung hingewiesen hatte. Der Hinweis wurde offenbar ignoriert. Melissa Beck wurde eine Beruhigungstablette angeboten – mehr bekam sie vorerst nicht. Erst drei Wochen nach der Aufnahme sollte sie eine medikamentöse Behandlung bekommen: Die Ärzte schlugen Melissa vor, ein „anregendes“ oder ein „dämpfendes“ Antidepressivum zu nehmen. Der Oberarzt empfahl der 20-Jährigen schließlich, das so genannte SSRI-Antidepressivum namens „Zoloft“ zu nehmen. Als Melissa Beck den Beipackzettel las, lehnte sie das Medikament zunächst ab, da darin auch eine erhöhte Suizidgefahr genannt wird.
Prof. Müller-Oerlinghausen erklärt: „Bei Patienten mit suizidalem Verhalten in der Anamnese oder solchen, die vor der Therapie ausgeprägte Suizidabsichten hatten, ist das Risiko von Suizidgedanken oder -versuchen erhöht. Sie sollten daher während der Behandlung besonders sorgfältig überwacht werden.“

Hier finden Sie Informationen … Depressionen, Suizidprävention… (2068079)Bei Melissa Beck war das der Fall. Sie schrieb einem Freund per WhatsApp: Scheiße Mann, ich kriege ab morgen Tabletten. Ich kann nicht mehr. Das ist wirklich das Ende. Meine Zimmernachbarin hat davon 20 kg zugenommen. Ich kann und will nicht zurück in die Klinik. Ich will lieber tot sein, aber dafür bin ich zu feige. Es ist der absolute Albtraum.

Melissa Beck schluckte die Tablette schließlich doch. Anstatt dass sie fortan engmaschig in der Klinik überwacht wurde, entließ man die 20-Jährige wenige später nach Hause. Kurz zuvor wurde die Dosis des Medikaments sogar noch verdoppelt. Den Arztbrief unterschrieb eine Psychologin ohne medizinische Ausbildung – bereits zwei Tage, bevor Melissa Beck entlassen wurde. Keine Rede von einer Gefahr für das Mädchen: Auf eigenen Wunsch wird die Patientin am 8.8.2014 nach ausreichender Stabilisierung und ohne Anhalt für Eigen-oder Fremdgefährdung entlassen. Eine verhängnisvolle Einschätzung, meint Müller-Oerlinghausen. Im Zusammenhang mit der Gabe eines SSRI-Antidepressivums würden suizidale Handlungen häufig dann auftreten, wenn die Substanz angesetzt oder die Dosis erhöht wurde.

Entlassung mit fatalen Folgen

Keine vier Stunden nach ihrer Entlassung aus der Klinik war Melissa Beck tot. Ihre Mutter fand sie zu Hause in ihrem Zimmer. Claudia Beck ist sich sicher, dass es dazu nicht hätte kommen müssen: „Die haben ein tödliches Risiko in die Behandlung eingeführt und das dann nicht überwacht.“
Weder Melissas Mutter, noch ihr Stiefvater und ihre Freunde wollen sich damit abfinden, dass eine 20-Jährige – nach vier Wochen Behandlung in einer Klinik – Suizid begeht und das dann nur als „bedauerlich“ angesehen wird.
Das erste Ermittlungsverfahren gegen die behandelnden Ärzte stellte die Staatsanwaltschaft nach zwei Jahren ein. Vor wenigen Wochen entschied das Oberlandesgericht nun endlich: Die Staatsanwaltschaft Bremen muss im Fall Melissa Beck erneut ermitteln. Für ein Urteil müsste den Ärzten am Bremer Klinikum Ost eine strafbare Handlung nachgewiesen werden. Prof. Müller-Oerlinghausen sagt dazu: „Ich kann nicht erkennen, dass da überhaupt eine ärztliche Betreuung stattgefunden hat.“ 

Anlaufstellen Depression

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